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Von wegen Reifeprüfung

Die Abstimmung über die Altersvorsorge 2020 ist «ein Test für die Gesellschaft», sagt Bundesrat Alain Berset. So weit kommt’s noch! Ein Plebiszit ist ein Test für die Regierung – darin besteht sein Wesen; das ist das kleine Einmaleins der direkten Demokratie. Am 24. September wird nicht die Reife des Volks (also dessen Bereitschaft, folgsam den weisen Ratschluss seiner Repräsentanten zu beglaubigen) auf dem Prüfstand stehen, sondern diese Sachvorlage und mithin die Glaubwürdigkeit derjenigen, die sie vertreten.

Weil einem Bundesrat schliesslich nicht unterstellt werden soll, er fabuliere gedankenlos daher, ist anzunehmen, dass Berset sich etwas überlegt hatte, als er diese widersinnige Wendung wählte. Die Prämissen dahinter offenbaren, zu Ende gedacht, ein bedenkliches Staatsverständnis: Das Volk ist für die Regierung da, nicht umgekehrt. In der halb repräsentativen, halb direkten Demokratie der Schweiz hat es freilich mitunter das Recht und die Pflicht, Ja oder Nein zu sagen, nicht zu akklamieren.

Zudem ist das kollektive Reifeexamen à la Berset Ausdruck des unsäglichen Ansatzes der angeblichen «Alternativlosigkeit». Der Innenminister wird ja nicht müde, fast schon nötigend die angeblich katastrophalen und irreparablen Folgen einer Ablehnung zu schildern. Auch hier zu Ende gedacht: Wieso dann überhaupt noch abstimmen? Wenn es für jedes Problem nur die eine, einzige «Lösung» gibt, wozu dann noch Politik?

Die Tatsache allein, dass die Altersvorsorge 2020 im Parlament nur ganz knapp verabschiedet wurde, dass sie, wie es sich in einem demokratischen Diskurs gehört, kontrovers attackiert und verteidigt wurde und wird, zeigt schon, dass es immer verschiedene Wege gibt – das Parlament hatte, das Volk hat die Wahl. Wenn es jedoch im Grunde nichts mehr auszuwählen, sondern nur noch Verfügtes zu bestätigen gibt, verkommt die Demokratie zum Ritual. Vor 1989 war das in manchen Ländern Usus.

Der in aller Regel unreflektiert verwendete Modebegriff der «Lösung» führt eben in die Irre. Lösungen gibt’s in der Mathematik, in der Technik. Im gesellschaftlichen Leben dagegen gibt es nur Prozesse. Sollte die Altersvorsorge 2020 scheitern, müsste unverzüglich der Prozess für eine Ersatzvorlage gestartet werden, sollte sie angenommen werden, desgleichen. Politik ist nicht Technokratie aufgrund exakter Messwerte, sie findet nicht unter Laborbedingungen statt: Sie ist ein lärmiger Markt der Interessen, Ideologien und Irrationalitäten. Dass dabei nicht «Lösungen» entstehen, sondern von Beginn weg mehr oder weniger reformbedürftige Improvisationen, lottrige Arrangements auf Zeit, darf man bedauern.

Doch so ist das Leben, so ist der Mensch, auch und gerade in seiner massenhaften und unglückseligerweise obendrein noch wahlberechtigten Erscheinungsform als Volk. Für den Fall, dass sich die eidgenössische Gesellschaft in dieser Abstimmung nach Berset’schen Kriterien als unreif erweisen sollte, sei dem Magistraten trosteshalber diese Sentenz Bertolt Brechts, auch ein Linker, ins Poesiealbum geschrieben: «Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?»

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