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Frischer Geist von 1848

Am 6. November 1848 trat in Bern die erste Bundesversammlung zusammen. Die 111 Nationalräte konstituierten sich im Casino, die 44 Ständeräte im Rathaus zum Äusseren Stand. Am 16. November wählten sie die ersten sieben Bundesräte. Am 5. Dezember wird die Vereinigte Bundesversammlung zwei Mitglieder des Bundesrats wählen. Der Nationalrat umfasst nun 200 Abgeordnete, der Ständerat 46, und sie tagen im Bundeshaus – vor allem aber: Es sitzen nicht mehr allein Männer im Plenum. Nun ist es durchaus möglich, dass zwei Bundesrätinnen gewählt werden.

Im Kern aber haben die Institutionen 170 Jahre bemerkenswert rüstig überdauert, und niemand zweifelt ernsthaft daran, dass die Bundesverfassung von 1848, unterdessen mehrfach revidiert, auf unabsehbare Zeit als Grundlage der Eidgenossenschaft dienen wird. Das seinerzeit beschlossene Arrangement ist, um für einmal diesen im Grunde antidemokratischen Ausdruck zu verwenden, sozusagen alternativlos. So stark polarisiert die Parteienlandschaft unterdessen auch sein mag – die Verfassung wird nicht infrage gestellt.

Solche demokratisch-republikanische Stabilität sucht in Europa ihresgleichen. Im Gegensatz dazu hat Frankreich, das die Geschicke der Schweiz vor der Errichtung des modernen Bundesstaats lange entscheidend beeinflusste, seit 1848 vier Republiken und das zweite Kaiserreich durchlebt. Im anderen grossen Nachbarstaat, in Deutschland, scheiterten 1848 die Liberalen: Deutschland schlug einen unglücklichen Sonderweg ein, und erst hundert Jahre später gelang, unter amerikanischer Federführung und zunächst nur im Westen, der Aufbau einer demokratischen, föderalen Republik.

USA als Vorbild für die Schweiz…

Amerika war in Europas Revolutionsjahr 1848 auch für die Schweizer Verfassungsväter die wichtigste Inspirationsquelle. Nach dem Sieg der Liberalen über die Konservativen im Sonderbundskrieg 1847 traten im darauffolgenden Frühjahr 23 Männer zusammen und schrieben in nur sieben Wochen die Rechtsgrundlage für den modernen Bundesstaat. Der an der Universität Bern lehrende Philosoph Ignaz Paul Vital Troxler verwies in einer Kampfschrift, die den Mitgliedern der Verfassungskommission bekannt war, dass das gesuchte Modell «längst erfunden und verwirklicht ist», nämlich im «politischen System der Vereinigten Staaten Nordamerikas».

Das Schweizer Zweikammersystem ist dem amerikanischen nachgebildet. Der vom Volk in Wahlkreisen bestellte Nationalrat kopiert das Abgeordnetenhaus, der Ständerat mit je zwei Mitgliedern aus allen Kantonen den Senat. Alle Bundesgesetze und -beschlüsse brauchen die Zustimmung beider Kammern. Im Unterschied zu den USA sieht die schweizerische Verfassung für die Exekutive jedoch kein mächtiges Präsidium vor, sondern das siebenköpfige Kollegium des Bundesrats.

Troxler behauptete seinerzeit, die 1789 in Kraft getretene amerikanische Verfassung speise sich (u. a.) aus schweizerischen Quellen und sei damit als Vorbild-Dokument quasi ein Rückimport: «Der Keim dieser Föderalrepublik … ist in unseren Bergen gesäet und von Europa aus jenseits des Meers … in den grossen Welttheil übertragen … Es kommt uns also von dort im Grunde nichts Neues, nichts Fremdes zu, sondern nur unser Ursprünglichstes und Eigenthümlichstes zurück.»

In der Tat scheinen amerikanische Verfassungsväter wie Benjamin Franklin, James Madison und Alexander Hamilton den seinerzeitigen schweizerischen Staatsaufbau studiert zu habe, hielten jedoch den alten eidgenössischen Staatenbund im Inneren wie nach aussen für zu schwach. Hingegen wurden in Amerika Schweizer Denker der Aufklärung – Jean-Jacques Burlamaqui, Emer de Vattel, Jean Rodolphe Vautravers – rezipiert. So hatte Burlamaqui das Streben nach Glück zum naturgegebenen Recht des Menschen erklärt: «The Pursuit of Happiness» gilt heute als uramerikanische Formel.

Der «transatlantische Ideenkreislauf», wie es der Zürcher Rechtswissenschaftler und Verfassungshistoriker Alfred Kölz sagte, geriet nach 1874 bzw. 1891 wieder in Bewegung, als die Schweizer in Verfassungsrevisionen direktdemokratische Instrumente einführten, zuerst das Referendum, dann die Volksinitiative. Das stiess in den USA auf erhebliches Interesse, besonders weil sich Teile des amerikanischen Volkes von manchen Politikern, die eng mit Bahngesellschaften, Banken und Trusts liiert waren, übervorteilt fühlten. Letztlich wurden jedoch nur in gut der Hälfte der Bundesstaaten solche plebiszitäre Elemente eingeführt, nicht jedoch auf Unionsebene.

Leider folgten die Schweizer später nicht dem Vorbild der Amerikaner, der Briten und anderer Nationen, die gegen Ende oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg den Frauen das Wahlrecht verliehen. Die Schweizer zogen erst 1971 nach: «Das war schlimmer als ein Verbrechen, das war ein Fehler», um den französischen Staatsmann Talleyrand anzuführen. Der Denker Troxler erachtete die Geschlechterhierarchie als überholt – hier hörte man leider nicht auf ihn. Die anfängliche Diskriminierung der Juden wurde 1866 aufgehoben. Die Verfassung von 1848 legte bereits den Grundstein für das Bundesgericht, doch erst die Revision von 1874 setzte die Gewaltenteilung auch hier ganz durch – vorher waren die Bundesrichter häufig zugleich Parlamentarier. 1919 schliesslich löste das Proporz- das Majorzwahlrecht ab.

All dies gesagt: Die Beständigkeit der legislativen und der exekutiven Verfassungsorgane des Bundesstaats ist durchaus Grund zur Genugtuung. Es ist ein Zeichen demokratischer Vitalität, wenn der Bundesrat gelegentlich im Parlament aufläuft, wenn sich die beiden Kammern nicht auf Anhieb einigen, wenn gar am Ende das Volk ab und zu Nein sagt. Das fehlt in rein repräsentativen Demokratien, die gelegentlich faktische Gewaltenverschränkung praktizieren. Wo «Checks and Balances» ungenügend ausgebildet sind, droht Willkür von oben.

Oder von unten. Die grosse Idee des französischen Staatstheoretikers Baron Montesquieu ist auch so zu verstehen, dass selbst eine Volksmehrheit nicht einfach uneingeschränkt verfügen kann. Das Referendum ist diesbezüglich unbedenklich, ja unverzichtbar; schliesslich gilt es «nur», über Vorlagen zu befinden, die von Exekutive und Legislative erarbeitet worden sind. Die ständige Drohung eines Referendums diszipliniert Parlament und Regierung, durchaus heilsam.

…Schweiz als Vorbild für die EU?

Dagegen sind Volksinitiativen mitunter fragwürdig. Inhaltlich, wie bspw. diejenige gegen «Masseneinwanderung», weil sie sich nicht ohne ernste Folgen für das lebenswichtige Beziehungsnetz zur EU umsetzen liess – und das Parlament sie dann prompt nicht wirklich umsetzte, was demokratiepolitisch unbefriedigend ist. Zudem, weil manche Begehren nicht stufengerecht sind. So sollen mit der «Hornkuh-Initiative» Bestimmungen Verfassungsrang erhalten, die allenfalls in eine Verordnung des Bundesamts für Veterinärwesen gehören.

Zwar gilt das Volksrecht der Initiative, um im Bild zu bleiben, da und dort als heilige Kuh, doch es ist keineswegs der Grundstein, auf dem die robuste Bundesstaatlichkeit aufgebaut ist, sondern eine nicht ganz unproblematische Ergänzung. Wenn es institutionellen Anpassungsbedarf gibt, dann am ehesten den, die Unterschriftenzahl für Initiativen ganz massiv zu erhöhen.

Niemand weiss, ob die Republik Schweiz in 170 Jahren noch so verfasst sein wird wie heute, ob es sie überhaupt noch geben wird. Oder auch, ob es die EU noch geben wird: Sollte sie aus einem innerlich wie nach aussen schwachen Staatenverbund zum Bundesstaat werden wollen, wie einst die Schweiz, müsste sie dem amerikanischen-schweizerischen Modell folgen, um sowohl das Volk insgesamt wie auch die Staaten abzubilden. Vielleicht ist es gerade die Zufriedenheit, alles in allem, der Schweizer mit ihrem Staatsaufbau, die sie davon abhält, einen ungewissen europäischen Pfad einzuschlagen, der – möglicherweise – in eine Art kontinentale Eidgenossenschaft führen könnte.