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Big Pharma unter Anklage

Die Pillen liegen verlockend wie Bonbons auf dem Frühstückstisch. «Was ist mit dem Rest unserer Süssigkeiten?», fragt Roseanne in die Fernsehkamera. «Es ist ein Witz», entgegnet ihr Mann Dan und öffnet eine weitere Tablettendose. «Die Krankenkasse deckt nicht mehr so viel ab wie früher. Darum gab’s in der Apotheke nur halb so viele Medikamente zum doppelt so hohen Preis.» Das Publikum im Studio lacht, worauf die beiden Rentner beginnen, hochpotente Schmerzmittel, Antidepressiva und andere rezeptpflichtige Präparate untereinander auszutauschen. Diese Eröffnungssequenz aus der Neuauflage von «Roseanne» mag befremdlich wirken. Dass die Macher der populärsten Sitcom Amerikas die neue Staffel aber gerade mit einem Gag zum Thema Gesundheit lanciert haben, ist bezeichnend. Sie sprechen damit eine Grundangst von Millionen Zuschauern an, die sich im teuersten Gesundheitssystem der Welt um ihr Wohlergehen sorgen.

Umso brisanter ist die gewaltige Welle an Rechtsklagen, die auf die Pharmabranche zurollt. Sie richtet sich auf die Schuld an der Krise um Opioid-Schmerzmittel, die zur tödlichsten Epidemie in der Geschichte der USA eskaliert ist. Gemäss der Gesundheitsbehörde CDC sterben täglich mehr als hundert Amerikaner an einer Überdosis Opioiden. Das sind mehr als durch Verkehrsunfälle oder Delikte mit Schusswaffen und es übertrifft selbst die Todesrate auf dem Zenit der Aids-Seuche. Besonders verheerend ist die Situation in der Region der Appalachen und im Nordosten des Landes, wo Weisse die Bevölkerung dominieren. Wie ernst das Problem ist, zeigt sich daran, dass die Lebenserwartung Weisser im mittleren Alter landesweit abnimmt, während sie in allen anderen Bevölkerungsgruppen steigt. Massgeblich verantwortlich dafür ist zunehmender Drogenmissbrauch, wie eine oft zitierte Studie der Princeton-Ökonomen Anne Case und Angus Deaton zeigt.

Dealer im Ärztekittel

Opioide werden in der Umgangssprache deshalb auch «Hillbilly-Heroin» genannt. Vereinfacht gesagt, sind das Substanzen mit morphinartigen Eigenschaften wie Oxycodon, Fentanyl oder Methadon. Weil die Abhängigkeitsgefahr extrem hoch ist, hatten Ärzte sie lange fast ausschliesslich zur Schmerzbehandlung bei Krebspatienten eingesetzt. Das änderte sich ab Mitte der Neunzigerjahre, als der Pharmakonzern Purdue eine aggressive Marketingkampagne für das Medikament OxyContin lancierte. Pseudowissenschaftliche Studien verharmlosten das Suchtrisiko, sodass OxyContin und vergleichbare Präparate wie Vicodin bald massenweise verschrieben wurden. Die Folge davon ist, dass in keinem anderen Land mehr Opioide konsumiert werden als in den USA. Über 2,5 Millionen Amerikaner sind heute davon abhängig – Tendenz steigend. Da viele sich verschreibungspflichtige Tabletten auf Dauer nicht leisten können, sind sie auf billigere Strassendrogen umgestiegen. So haben 80% der Heroinsüchtigen mit dem Missbrauch von Opioid-Schmerzmitteln angefangen.

Das verursacht nicht nur enormes Leid, sondern auch hohe Kosten. Die US-Regierung schätzt, dass es über 500 Mrd. $ pro Jahr sind. Dafür wird Big Pharma jetzt vor Gericht zur Rechenschaft gezogen. Bundesstaaten, Städte, Gemeindebezirke und sogar Stämme von Ureinwohnern haben Hunderte von Klagen gegen die Branche eingereicht. Die Schlüsselrolle kommt einer Sammelklage vor dem Gerichtshof des nördlichen Distrikts von Ohio in Cleveland zu, die über vierhundert Einzelklagen zusammenfasst. Anfang April hat sich diesem Prozess das US-Justizministerium angeschlossen, «um sicherzustellen, dass Gerechtigkeit widerfahren wird». Dass der wichtigste Rechtsstreit zur Opioid-Epidemie in Ohio ausgefochten wird, bedeutet für die Gesundheitsindustrie keine vorteilhafte Ausgangslage. Fast vierzig von 100‘000 Einwohnern sterben dort an einer Drogenüberdosis. Ohio gehört damit wie West Virginia, New Hampshire, Pennsylvania und Kentucky zu den Bundesstaaten, die am stärksten betroffen sind.

Erste Präzedenzfälle zur Sammelklage sollen im März 2019 vor Gericht kommen. Richter Dan Polster, unter dessen Vorsitz der Prozess verhandelt wird, hat klargemacht, dass er möglichst schnell einen Vergleich sehen will. Entsprechend angespannt ist die Stimmung im Gesundheitssektor. Unter Anklage stehen allen voran die Medikamentenhersteller Purdue Pharma, Endo International, Teva Pharmaceutical Industries, Johnson & Johnson und Allergan. Ihnen wird angelastet, dass sie den Verkauf suchterzeugender Produkte über Jahre hinweg forciert und dadurch eine öffentliche Katastrophe ausgelöst haben. Vor Gericht stehen ebenfalls Grossisten wie McKesson, Cardinal Health und AmerisourceBergen. Sie werden beschuldigt, dass sie alarmierende Mengen an Schmerzmitteln vertrieben haben, ohne es den Behörden zu melden. Ähnliche Klagen richten sich gegen Apotheken wie Walgreens, CVS Health und Rite Aid, die für den massenhaften Verkauf von Opioiden an Einzelkunden verantwortlich waren. Weitere Fälle nehmen Kliniken und Ärzte ins Visier, die Medikamente wie OxyContin in grossem Stil verordneten.

Der Branche drohen damit Rechtskosten, die sogar den 250 Mrd. $ teuren Rekordvergleich übersteigen könnten, zu dem die Tabakbranche Ende der Neunzigerjahre gezwungen wurde. Nicht zufällig ist die Sammelklage ähnlich konzipiert wie einst beim Prozess gegen die vier grössten Zigarettenhersteller. In geeinter Front forderten die fünfzig US-Bundesstaaten damals Schadenersatz für die Auslagen, die der öffentlichen Krankenversicherung Medicaid für die Behandlung von Raucherkrankheiten wie Lungenkrebs und Herzproblemen entstehen. In gleicher Weise soll die Gesundheitsindustrie nun für den Schaden aufkommen, den die Opioid-Epidemie dem Steuerzahler verursacht: Vom Ambulanznotruf bei einer Überdosis über die Ausbreitung von Krankheiten wie Hepatitis wegen verunreinigter Spritzen bis hin zu steigender Drogenkriminalität.

Extrem komplexer Fall

Garantiert ist ein Schuldspruch freilich nicht. Verglichen mit dem Prozess gegen die Tabakkonzerne bestehen gravierende Unterschiede. Zum Beispiel sind auf beiden Seiten mehr Parteien involviert, was das Verfahren verkompliziert. Pharmahersteller, Grossisten und Detailhändler haben einen Anreiz, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Ebenso können die Interessen von Bundesstaaten, Städten und Bezirken divergieren. Im Gegensatz zu Zigaretten ist die schädigende Wirkung von Medikamenten wie OxyContin ausserdem weniger einfach nachweisbar, zumal sie von der Aufsichtsbehörde FDA genehmigt werden und vielen Patienten helfen. Hinzu kommt, dass der Markt wesentlich kleiner ist. In den USA werden jährlich rund 10 Mrd. $ mit dem legalen Verkauf von Opioiden umgesetzt. Im Gegensatz dazu sind es bei Zigaretten trotz aller Präventionsmassnahmen annähernd 100 Mrd. $.

Ein zentraler Faktor, der zum Master Settlement Agreement mit der Tabakindustrie von 1998 beitrug, waren Aussagen von Whistleblowern. Ähnlich kompromittierende Insiderinformationen gibt es im Verfahren gegen Medikamentenhersteller bisher nicht. Noch wichtiger war seinerzeit aber der immense öffentliche Druck, unter dem die Zigarettenfabrikanten letztlich kapitulierten. Mindestens so schwer wiegt heute der Unmut auf die Pharmaindustrie, wie die erwähnte Szene aus «Roseanne» verdeutlicht. Während das Einkommen eines mittelständischen US-Haushalts über die vergangenen zwanzig Jahre nahezu stagniert hat, sind die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung auf über das Zweifache explodiert und betragen inzwischen jährlich mehr als 10 000 $ pro Kopf. Dass dagegen etwas getan werden muss, ist denn auch einer der wenigen Punkte, in dem sich das gespaltene Land einig ist. Obwohl die Lobby der Pharmabranche in Washington viel Einfluss hat, würde es daher überraschen, wenn sie ohne Konsequenzen aus der Opioid-Krise davonkommt.