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Zu viel Bahn ist gefährlich

Gemäss dem Global Competitiveness Report 2012/13 des World Economic Forum (WEF) verfügt die Schweiz über die beste Verkehrsinfrastruktur und das beste Bahnsystem weltweit.

Dies – von Verkehrsunternehmen, Regulierungsbehörden und Politikern bis vor kurzem gerne und oft kolportiert – mutet nach der Unfallserie mit Todesopfern in Frankreich, Spanien und in der Westschweiz fast zynisch an. Sind die Bahnsysteme in lebensbedrohliche Zustände geraten? Ist der Bahnfahrer in der Schweiz nur etwas weniger gefährdet als im Ausland?

Solche Schlüsse dürfen allein aus der Häufung tragischer Ereignisse in den vergangenen Tagen und Wochen nicht gezogen werden. Zu Unfällen kann es selbst bei extrem niedriger Wahrscheinlichkeit kommen, sonst wäre sie gleich null. Die eingetretene Häufung ist zwar noch weit weniger wahrscheinlich als ein einzelner Unfall, aber eben auch nicht unmöglich. Eine Warnlampe sollte nicht erst aufblinken, wenn es effektiv zu Unfällen gekommen ist, sondern schon, wenn das Unfallrisiko zunimmt.

Die Zahlen des Bundesamts für Statistik vermögen kaum Aufschluss über künftige Unfallrisiken zu geben. Sie zeigen, dass die Bahnunfälle in der Schweiz über Jahrzehnte trotz stark steigender Verkehrsleistung massiv abgenommen haben. Verunfallten Mitte des vergangenen Jahrhunderts bei einem Bruchteil der heutigen Verkehrsleistung jährlich im Durchschnitt noch rund 500 Personen, so sind es heute nur mehr rund 50 Personen.

Aufgrund dieser inzwischen sehr niedrigen Unfallwahrscheinlichkeit schwanken aber die jährlichen Unfalldaten so stark, dass selbst eine erhebliche Zunahme der Unfallwahrscheinlichkeit darin noch für Jahre verborgen bleiben könnte und fatalerweise erst nach vielen weiteren Unfällen bemerkt würde. Es braucht intelligente, prospektive Risikoanalysen.

Durchschnittskosten entscheidend

Höhere Unfallrisiken ergeben sich vor allem in Teilen von Bahnnetzen, die mit verschiedenen Zugsarten unterschiedlicher Geschwindigkeiten – also mit inhomogenem und deshalb sehr komplexem Verkehr – bis nahe an die Kapazitätsgrenze ausgelastet werden müssen. Werden solche Engpässe durch betriebliche Umstellungen oder Kapazitätserweiterungen entschärft oder beseitigt, so ergeben sich früher oder später meistens neue Engpässe und erhöhte Unfallrisiken in anderen Teilen des Netzes.

In Bahnnetzen werden aber auch Netzvorteile in Form von Dichte-, Grössen- und Verbundvorteilen über höhere Kapazitätsauslastung und Kapazitätserweiterung erreicht. Daraus ergeben sich Effizienzgewinne, welche die Gesamtkosten unterproportional zur Anzahl Züge oder zur Transportleistung anwachsen lassen und so zu sinkenden Durchschnittskosten pro Zugskilometer, Personenkilometer oder Tonnenkilometer führen. Die optimale Netzgrösse und -auslastung wird erreicht, wenn sämtliche technisch-ökonomisch möglichen Effizienzpotenziale voll ausgeschöpft sind. Darüber hinausreichende Verdichtungen oder Erweiterungen lassen die Durchschnittskosten nicht mehr weiter fallen, sondern steigen. Ein wichtiger Grund dafür, dass Netzvorteile mit zunehmender Netzgrösse oder -dichte in dieser Weise gewissermassen in Netznachteile umkippen können, liegt darin, dass früher oder später überproportional steigende Kosten für den Unterhalt sowie zur Koordination und zur Sicherstellung der Sicherheit des Netzbetriebs in Kauf genommen werden müssen.

Im Sommerloch ist ein Medienhype um die Unfälle entstanden. Das ist für einmal gut so, denn es treten tatsächlich kritische Punkte zu Tage. So haben die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) eingeräumt, den Ausbau ihrer Zugsicherungssysteme in der Expansion ihrer Netz- und Verkehrsleistungen gebremst zu haben, um mit Blick auf eine grosse Anpassung ihrer Sicherungssysteme an den europäischen Standard Mittel zu sparen bzw. Kostenduplizierungen zu vermeiden. Diese Strategie entbehrt im Rückblick auf die gute Unfallstatistik sowie im Vorausblick auf die 2 Mrd. Fr. teure Umsetzung des erwähnten Standards nicht einer betriebswirtschaftlichen Logik. Allerdings fragt sich jetzt nach vielen Pannen und dem Unfall, ob mit diesem «Mut zur vorübergehenden Sicherheitslücke» nicht eine erhebliche Steigerung der Unfallwahrscheinlichkeit und damit zu grosse Unfallrisiken in Kauf genommen wurden.

Der Direktor des Bundesamts für Verkehr (BAV), Peter Füglistaler, fordert jedenfalls die sofortige Abkehr von dieser Strategie und den unverzüglichen Ausbau der Zugsicherung – notfalls unter Zurückstellen der Anpassung an den europäischen Standard – sowie eine Verstärkung des Bahnunterhalts.

«Auffälligkeiten» und sicherheitsrelevante Probleme im Unterhalt seien aber ursächlich auf die Grösse des Unternehmens SBB und die Komplexität des Bahnbetriebs zurückzuführen. Dazu ist anzumerken, dass die Strategie der SBB letztlich über den Leistungsauftrag des Bundesrats und die Aufsicht der zuständigen Departemente und Ämter (UVEK/Bundesamt für Verkehr und EFD/Eidgenössische Finanzverwaltung) «ferngesteuert» wurde. Zudem klagen die SBB seit langem über zu knappe Mittel für Unterhalt und Sicherheit, sie stösst damit aber notorisch auf Kritik des Preisüberwachers.

Ökonomisch interessanter als Verantwortlichkeitsfragen ist aber die Aussage Füglistalers zur Grösse der SBB und zur Komplexität des Bahnbetriebs. Netz und Betrieb ergeben sich nicht in erster Linie aus einer verkehrs- und betriebswirtschaftlichen Optimierung der SBB, sondern werden im politökonomischen Verteilungskampf regional-, sozial- und umweltpolitischer Partikularinteressen vorgegeben. So hat sich in föderalen demokratischen Prozessen der Schweiz ein überdimensioniertes, viel zu komplexes Bahnsystem entwickelt, das fast jedes regionale Zentrum und eine enorme Zahl weiterer Ortschaften mindestens im Stundentakt zu weitgehend künstlich verbilligten Preisen erschliesst und bedient.

Es verkehren – auf immer mehr Netzteilen mit extremer Kapazitätsauslastung – verschiedenste Güter- und Personenzüge im Agglomerations-, Regional-, Fern- und Transitverkehr mit unterschiedlichen Reisegeschwindigkeiten und Abfertigungsanforderungen. Entsprechend hohe Kosten zur Koordination und Gewährleistung von Sicherheit lassen das System noch weiter in den ineffizienten Bereich kippen. Wird mangels finanzieller Mittel oder betrieblicher Anpassungsmöglichkeiten (weil Netz und Betrieb politisch vorgegeben sind) am Unterhalt und an den Sicherungssystemen gespart, dann ist mit steigenden Unfallzahlen zu rechnen.

Bahnprobleme sachgerecht lösen

Die SBB sind also zu gross und zu komplex, weil sie politisch gezwungen sind, ihr Netz und ihre Züge zu weit und zu verästelt in die Fläche und an die Peripherie zu führen. Das so erschlossene Verkehrspotenzial reicht nicht aus für das teure Massentransportmittel Bahn. Schon die direkten Zusatzkosten lassen sich bei weitem nicht durch die Kundenerträge der schlecht frequentierten Züge decken, sondern werden der Allgemeinheit in der einen oder anderen Form aufgebürdet.

Noch gravierender ist, dass dieser für sich allein genommen schon sehr ineffiziente Verkehr mit niedriger Geschwindigkeit, ständigem Anhalten und Gleisbelegung in Anschlussbahnhöfen auch noch potenzielle Netzvorteile des Gesamtsystems zunichtemacht, dessen Unfallrisiken erhöht und so die Koordinations- und Sicherungskosten nach oben treibt.

Die Verkehrspolitik scheint sich dieser an sich wenig umstrittenen Analyse nach wie vor zu verschliessen. Das Parlament hat noch vor der Sicherheitsdiskussion mit dem Bahninfrastrukturfonds und der Bundesrat mit dem Entwurf eines neuen Gütertransportgesetzes Weichen gestellt, die den Bahnverkehr noch weiter und noch dichter in die Fläche ausdehnen könnten. Im Lichte der Sicherheitsdiskussion sollte diese Weichenstellung endlich einmal kritisch geprüft werden.