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«Zäsur für alle globalen Banken»

Menschliche Schicksale: Ein entlassener Lehman Brothers-Mitarbeiter verlässt den Hauptsitz in New York

«Es war wie auf der Titanic. Wir steuerten immer näher auf den Eisberg zu, und der Kapitän hatte den Verstand verloren.» So beschreibt der frühere Leh­man-Trader Larry McDonald im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft» die Situation im Inneren der amerikanischen Investmentbank vor dem grossen Crash. Am 15. September 2008 ist Lehman Brothers untergegangen.

«Ich ­erinnere mich, wie wir die Leute im Hochhaus nebenan sahen, mit dem Rücken zum Fenster», sagt einer, der an jenem Montag im Finanzdistrikt Canary Wharf in London arbeitete. «Wir alle wussten, dass sie gerade über ihre Entlassung informiert wurden.» Die Rettung war am Wochenende gescheitert, der Konkurs angemeldet worden.

«Die Abwicklung einer globalen Bank übers Wochenende ist nicht realistisch», ist von Regulatoren ebenso wie von Führungskräften potenziell betroffener Banken auch heute noch zu hören. Und «der Untergang einer systemrelevanten Bank würde noch immer eine Kettenreaktion nach sich ziehen, auch wenn die Hürden inzwischen höher sind», sagt Klaus Kirchmayr, Partner bei MilleniumAssociates, der Beraterboutique für Finanzinstitute.

Als die amerikanische Investmentbank 2008 fallen gelassen worden war, fror mit einem Schlag der Geldfluss zwischen den verbleibenden Banken ein. Zu gross war die Skepsis gegenüber der jeweiligen Konkurrenz, das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit der Institute damit grossflächig ­dahin. Der Interbankenmarkt, quasi der Blutkreislauf, der die einzelnen Banken miteinander vernetzt und ihre Liquidität sicherstellt, kam zum Stillstand. Weltweit gerieten Institute in Schieflage. Der amerikanische Staat entschied sich nur Tage nach dem Lehman-Kollaps, rund 100 Mrd. $ an Steuergeldern durch den leblosen Körper der AIG in das Finanzsystem zu pumpen, um den drohenden Flächenbrand einzudämmen; die Schweiz rekapitalisierte die UBS und übernahm fast 40 Mrd. $ an toxischen Papieren aus ihrer Bilanz.

«Offenbarungseid»

«Die Lehman-Pleite war ein Offenbarungseid und bedeutete eine Zäsur für alle glo­balen Banken», sagt Kirchmayr. Der Glaube an die Verlässlichkeit quantitativer Risiko­modelle musste aufgegeben werden. «Mathematische Modelle mögen für 99,9% der Fälle gelten, die Wahrscheinlichkeitsrechnungen sind aber nicht funktional, wenn man sie braucht. Und das ist 2008 massiv schiefgegangen», lautet sein Befund.

«Hör nie auf zu fragen, bis du die einfachste Antwort erhältst. Sie könnte die Wahrheit sein», beschreibt ein Banker, der heute selbst bei einer Grossbank in der Verantwortung steht, seine Lehre aus der Krise. Früher sei Risikomanagement als nur etwas für mathematische Genies gehalten worden, statt dass man gesunden Menschenverstand hätte walten lassen. Doch dann waren Risikokorrelationen falsch eingeschätzt worden, und Absicherungsmechanismen sind reihenweise ausgefallen. Bei veränderter Risikolage werde nun nicht bloss die Exponiertheit angepasst, sondern gleichzeitig das Gegenparteienrisiko untersucht, beschreibt die Führungskraft eine weitere Lehre. «Man sollte beispielsweise eine Absicherung gegen Stresssituationen in Südeuropa nicht unbedingt bei einer ­italienischen Bank kaufen», illustriert er.

«Die Kultur an Wallstreet hat sich seit dem Lehman-Crash drastisch verändert. Das internationale Finanzregelwerk Basel III und die Entschuldung der Banken haben das Risikoverhalten erheblich reduziert», sagt der frühere Lehman-Trader McDonald. «Es liegen viel weniger Chips auf dem Pokertisch», meint der Händler, der bis April für das Investmenthaus gearbeitet hatte und dann gefeuert wurde, weil er sich gegen Konzernchef Dick Fuld aufgelehnt hatte. «Es ist wie Tag und Nacht», bestätigt ein hochrangiger Banker in London. Als Underwriter sei er dem Risiko­manager unterstellt. Wenn eine Position sich unerwartet entwickle, riefen CEO und Verwaltungsratspräsident abwechselnd bei ihm an, berichtet ein Bereichsleiter.

«Der Verwaltungsrat hat ein viel grösseres Interesse an Risikomanagement als früher», sagt auch ein Mitglied einer Regulierungsbehörde. Ressourcen sind heute viel knapper als früher. Die Allokation von regulatorischem Kapital und Liquidität müsse genauer vorgenommen werden, und zwar unter Berücksichtigung der langfristigen, risikoadjustierten Gewinnerwartungen. «Die knapperen Ressourcen sind heute der eigentliche Treiber der Strategien der Banken», analysiert er. Das neue Regelwerk werde zu einer deutlich stärker ausdifferenzierten Bankenwelt führen, ist man sich in der Branche denn auch weitgehend einig.

Uneins ist man sich hingegen, ob die gestiegene Robustheit der einzelnen Institute auch zu einem insgesamt stabileren Finanzsystem führt. «Die Forderung nach Sollbruchstellen, durch die systemrelevante Bereiche von anderen Geschäftsfeldern abgetrennt werden, macht ein System nicht inhärent stabiler», sagt ein Entscheidungsträger einer international tätigen Bank. Zwar könne dies möglicherweise die Ansteckungsgefahr im Fall einer Krise mindern. Sicher sei jedoch nur, dass es zu «Atomisierung des Bankensystems» führe. Strengere Auflagen förderten zudem das Wachstum der Schattenbanken.

«In der Hitze der Finanzkrise hat sich internationale Zusammenarbeit als notwendig erwiesen», sagt die Führungskraft. Wir brauchten eine Annäherung der Regulierungssysteme, schlussfolgert er und fordert «Konvergenz auf globaler Ebene». Auch der zweite Entscheidungsträger ist überzeugt: «Bei der Abwicklung einer globalen Bank wäre die Zusammenarbeit der Regulatoren zweckmässig. Damit würden alle Anspruchsgruppen besser fahren.»

Nationalismen

Auch wenn Schritte zu einer Harmonisierung der internationalen Vorgaben unternommen werden – eine lückenlose institutionalisierte Kooperation dürfte unerreichbar bleiben. Jedenfalls ist der Fortschritt auch für das Financial Stability Board FSB als Beauftragten der G-20 langsam, wie Mark Carney, FSB-Präsident und Gouverneur der Bank of England, unlängst vor Medien in London eingeräumt hat: «Wir müssen sicherstellen, dass die Behörden die Macht, die entsprechenden Abkommen und den Mut haben, eine globale Bank abzuwickeln.» Doch selbst ein Mitglied eines Regulators sagt: «Es ist unrealistisch, ein globales Bankeninsolvenzrecht zu erwarten.» Grosse Industrienationen wollten sich die Tür offen halten, um in der Krise Handlungsspielraum zu haben, begründet er die Skepsis.

«Das grösste Problem ist, dass die Finanzinstitute viel Geld an die Politiker spenden. Sie nehmen grossen Einfluss darauf, in welche Richtung die regulatorischen Veränderungen gehen sollen», sagt Richard Sylla, Professor für US-Finanzgeschichte an der New York University. Die Banken hätten den Reformprozess so erfolgreich verlangsamt und versuchen, ihn totzureden, meint der renommierte Historiker. Die Lösung des Problems des Too big to fail, durch die insbesondere der Steuerzahler aus der Haftung befreit werden könnte, steht denn bis heute aus.

Mit Nationalismen aber könne man eine Kettenreaktion kaum aufhalten, ist Berater Kirchmayr überzeugt: «Jedes Land muss für sich das Klumpenrisiko aus dem eigenen Finanzsektor selbst beurteilen und entsprechende Sicherheitsmechanismen einbauen.»

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