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Wir sind noch mitten in der Krise

Da war plötzlich dieser Moment der Stille, bevor es richtig laut wird. So ist es, nachdem verschiedene Rettungsoptionen für die Investmentbank Lehman Brothers geprüft und verworfen werden. Seitdem Bear Stearns im März an J. P. Morgan zwangsverkauft worden ist, gilt Lehman als das schwächste Glied. Der CEO von Lehman, Dick Fuld weiss es. Er klopft vergeblich beim Starinvestor Warren Buffett an, ob er einsteigen wolle. Ebenso wenig fruchten die anderen Ideen, die mit viel Goodwill, aber nicht mit Geld von der US-Regierung und vom New-York-Fed unterstützt oder gar eingefädelt werden. Ein letzter Versuch, mit Barclays aus Grossbritannien einen Deal hinzubiegen, scheitert am «No» des britischen Regulators. Und so beginnt die Mitteilung der Bank, datiert vom 15. September 2008: «Lehman Brothers Holding kündigt an, Konkurs unter Chapter 11 anzumelden.»

Angefangen hat die Finanzkrise, in der Lehman nur das symbolhafteste Ereignis war, viel früher in den Nullerjahren, als die Banken, vor allem die europäischen, ihre Bilanzen ausdehnten, als gäbe es kein Morgen. Niemand hielt das für ein Problem, weder die Aufsicht noch die internen Risikoabteilungen. Es sah unter dem damaligen Kapitalstandard so aus, als hätten die Banken alles im Griff. Doch das war eine Illusion. Weder die Liquiditätsausstattung noch das Eigenkapital reichten auch nur annähernd aus, um selbst eine kleine Marktverwerfung zu überstehen. Die «ausgeklügelten» Modelle zur Berechnung der Risiken lieferten zu niedrige Werte. Als sich die Flut von Liquidität zurückzog, blieben zahlreiche Opfer wie tote Quallen am Strand liegen.

Staaten mussten reagieren. In den Industrieländern wurden 20% des Bruttoinlandprodukts 2008 für Kapitalspritzen, den auf von Wertpapieren und Schuldengarantien für Banken eingesetzt. Für die Rettung der UBS gut einen Monat nach dem Lehman-Konkurs nahm die Eidgenossenschaft 10% der Bundeseinnahmen in die Hand (6 Mrd. Fr.), die Schweizerische Nationalbank übernahm Wertschriften für 10% des Schweizer BIP (60 Mrd. Fr.). Angesichts dieser Zahlen war klar, dass die Reaktion der Politik und der Aufsicht, meist mit einem «Nie wieder» eingeleitet, heftig ausfallen würde. Höhere Kapitalanforderungen, antizyklische Puffer, Liquiditätsvorschriften, Notfallpläne: Die Schraube wurde angezogen.

Fehlallokationen zuhauf

Die Reaktion der Notenbanken in den Industrieländern war nicht weniger heftig. Sie stimulierten die Wirtschaft mit Zinssenkungen, sogar bis unter null. Und sie kauften und kaufen immer noch Wertschriften, um die Geldmenge ausdehnen. Darüber hinaus änderten sie die Kommunikation und machen von vornherein klar, unter welchen Umständen sich die Geldpolitik ändern würde.

Als Bezugspunkt ist das, was nach Lehman geschah, immer noch präsent. Aber was hat sich geändert, ist das Finanzsystem besser geschützt? Was sind die Folgen der Krise? Dazu vier Überlegungen. Erstens: Die Zinsen sind niedrig. Das derzeitige Zinsniveau führt zu Fehlallokationen, Risiko hat nicht mehr den richtigen Preis, alles ist verzerrt. Ein Beispiel dafür ist die 100-jährige Dollaranleihe Argentiniens, die 2017 emittiert wurde. Die Rendite auf Verfall von knapp 8% mag relativ attraktiv sein, aber angesichts einer Geschichte mit sieben Defaults seit der Unabhängigkeit 1816 auf internationalen Schulden sind es eben doch zu wenig. Argentinien befindet sich nämlich erneut in einer Krise. Auch Aktienkurse und Immobilienpreise stiegen wegen der niedrigen Zinsen auf Rekordniveaus.

Bis jetzt gibt es keinerlei Anreiz für Unternehmen und Haushalte, ihre Verschuldung abzubauen. Das machen Zahlen deutlich: Weltweit sind die Schulden gemessen am Bruttoinlandprodukt auf 318% gestiegen; Unternehmen, Banken und Versicherungen, private Haushalten wie auch Staaten halten höhere Schulden als Anfang 2008. Wer höhere Zinsen wegsteckt und wer nicht, wird sich bei einem Anstieg der Zinsen erweisen. Wie sich der Rückzug der Zentralbanken auswirken kann, hat sich bereits gezeigt. Der Volatilitätsschub im Februar geht darauf zurück, genau wie der Währungseinbruch in der Türkei bzw. in Argentinien.

Zweitens findet eine politische Gegenbewegung statt. Bankrettungen sind nirgendwo beliebt. Egal wie gut die ökonomischen Argumente für die Rettung von Banken auch waren, so wie in der Schweiz auch war der Zorn weltweit gross, als trotz staatlicher Rettung uneingeschränkt Boni ausgeschüttet wurden. Unbeliebte Bankrettungen, niedrige Zinsen, die sich auf die Pension auswirken, das zaghafte Wachstum seit der Krise und die als schwach oder falsch empfundene Reaktion des Staats darauf: Das sind alles Gründe, weshalb die Anti-Establishment-Parteien Zulauf haben. Egal wie gross ihr Einfluss ist: Sie steuern die politische Richtung. Der Fokus der Politik heute ist nationaler als er es 2008 war. Ein international koordiniertes Vorgehen wie damals ist zehn Jahre später kaum vorstellbar, siehe Handelskrieg.

Europa baut noch an Strukturen

Drittens sind die neuen Rettungsinstrumente für Banken noch nicht getestet worden. Die Eigenkapitalerfordernisse für Banken haben geholfen, das Banksystem widerstandsfähiger zu machen, da sind sich alle einig. Ob es für eine neue Krise im Lehman-Ausmass reicht, sei dahingestellt. Ein Resultat der Finanzkrise war es aber auch, die Banken organisatorisch so vorzubereiten, dass sie an dafür vorgesehenen Stellen auseinanderbrechen können. Es gibt zudem neue Kapitalformen (Bail-in-Kapital) und in Europa neue Abläufe, wie man systemkritische Banken abwickeln will. Diese Neuerungen sind wertvoll, aber noch nicht getestet. So viele intelligente Menschen da auch mitgearbeitet haben: Erst die nächste Krise wird zeigen, ob diese Pläne funktionieren.

Viertens gibt es in Europa Baustellen, die während der Finanzkrise eröffnet wurden, aber noch nicht abgeschlossen sind. Das gilt nicht nur für den Euro, der als direkte Folge der Krise als schwach konstruierte Währung entblösst wurde. Wie beim Euro liegt im Bankenmarkt das Problem in der mangelnden Vergemeinschaftung. Deshalb ist das Vorhaben der Bankenunion so zentral. Teile davon, ein Bail-in-Regime sowie die gemeinsame Aufsicht über die grössten Banken, sind in Kraft. Was fehlt, ist eine Euroeinlageversicherung. Solange sie fehlt, werden Banken als nationale Einheiten angeschaut, was auch die Konsolidierung des übersättigten Bankenmarkts in Europa hindert. So wie die Eurozone derzeit aufgestellt ist, kann es jederzeit wieder zu den verheerenden Ansteckungen von Staatsfinanzen und Banken kommen.

Es gibt also Zweifel, ob ein Fall Lehman zehn Jahre später besser verdaut werden könnte, etwa was die Fähigkeiten der Notenbanken angeht. Sie sind derzeit reduziert, wegen des Zinsniveaus und der aufgeblähten Bilanzen. Die Banken und das Finanzsystem wären etwas besser gerüstet, doch wie gut, bleibt offen. Der Beweis steht nämlich aus, ob eine Bank, die grenzüberschreitend tätig ist, mit einem geordneten Konkursverfahren abgewickelt werden kann. Es ist auch nicht klar, ob die Sollbruchstellen in Grossbanken wirklich brechen.

Kommt hinzu, dass sich das Finanzsystem verändert hat. In Europa haben Unternehmen ihre Finanzierung verbreitert, indem sie Anleihen ausgaben oder auf anderen Wegen an Banken vorbei Geld beschafften. Zudem birgt die Digitalisierung das Potenzial, dass Banken als traditionelle Finanzdienstleister abgelöst werden. Auch die riesigen Geldströme, die in passive Anlagevehikel fliessen, verändern die Verteilung von Liquidität im Markt. Die Finanzkrise also als abgehakt zu bezeichnen, ist verfrüht. Wir stecken noch mittendrin.