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Wie will «Boris» den Brexit meistern?

Seit sich die britische Bevölkerung im Juni 2016 in einem Referendum knapp für den Brexit entschieden hat, kommt das Vereinigte Königreich kaum mehr zur Ruhe. David Cameron trat als Premierminister zurück, und Theresa May übernahm. Sie war ursprünglich gegen den Austritt aus der EU, wollte jedoch mit einer starken Brexit-Strategie ihre Partei in den Griff bekommen. Sie war in einer schwierigen Situation, da es nahezu unmöglich war, das Problem Brexit zu lösen.

Landauf und landab spaltet das Thema Familien und belastet Freundschaften. Wichtiger noch für die zurücktretende Premierministerin: Der Brexit spaltete sowohl die konservative Regierungs- wie auch die oppositionelle Labour-Partei, was Kompromisse  zusätzlich erschwert.

Sowohl May wie auch Labour-Chef Jeremy Corbyn sind Produkte ihres Parteiapparats und wollen dessen Einheit gewähren – koste es, was es wolle. Das Wohl der Partei hat mitunter Vorrang vor demjenigen des ganzen Landes.

Die Verhandlungen mit der EU verliefen zäh und Brüssels Chefunterhändler Michel Barnier vermochte es, die siebenundzwanzig EU-Länder auf eine Linie zu bringen und dort zu halten, für ihn ein grosser Erfolg. Am Ende mündeten die Verhandlungen in eine «Withdrawal Bill», ein Trennungsgesetz. Mays Deal war den Abgeordneten der Tories jedoch nicht genehm und erlitt historische Niederlagen im Unterhaus.

Der Premierministerin blieb nur noch der Rücktritt. Zehn Nachfolgekandidaten buhlten danach um die Gunst der Tory-Fraktion, bis am Donnerstagabend noch zwei übrig geblieben sind: Boris Johnson, der hundertsechzig Stimmen erhalten hat, und Jeremy Hunt, auf den siebenundsiebzig Stimmen entfallen.

Die Tories mögen Johnson

Brexit-Befürworter Boris Johnson, 55, ist ein ehemaliger Brüssel-Korrespondent der Zeitung «Daily Telegraph». Er war Bürgermeister von London und Aussenminister in Theresa Mays erstem Kabinett. Der exzentrische und laute Johnson hat den Status einer Marke: Er ist gemeinhin als «Boris» bekannt. Johnson war 2008 bis 2016 ein sehr wirtschaftsfreundlicher Bürgermeister.

Als Aussenminister (2016 bis 2018) fiel er dagegen nicht durch Standhaftigkeit auf. In der Brexit-Debatte waren ihm wirtschaftliche Anliegen zweitrangig. Johnson glaubt, dass es das Ende der Konservativen Partei bedeuten würde, wenn das Vereinigte Königreich zum Stichtag  am 31. Oktober die EU nicht verlassen könnte.

Sein Gegenkandidat Jeremy Hunt (53) ist ein ehemaliger Kultur- und Gesundheitsminister und dient gegenwärtig als Aussenminister. Hunt will den Brexit fristgerecht bis am 31. Oktober durchführen, obwohl er ursprünglich für den Verbleib in der EU votierte.

Einen Monat lang werden die zwei nun versuchen, die 160‘000 Parteimitglieder von sich zu überzeugen. In der Woche ab 22. Juli wird das Resultat bekannt sein. Favorit ist Boris Johnson. Er hat den Parteimitgliedern das versprochen, was sie hören wollten – Brexit um jeden Preis, plus Steuersenkungen.

Die Tories denken auch, dass «Boris» den Bekanntheitsgrad und das Charisma hat, um allfällige Neuwahlen zu gewinnen. Er ist andererseits jedoch bekannt dafür, auch schon mal zu flunkern und sich aufs Glatteis zu wagen. Wenn ihm kein Patzer unterläuft, ist anzunehmen, dass er das Rennen bei seinen Parteifreunden machen wird.

Dieses Auswahlverfahren kennt übrigens viele Kritiker, denn die Mitglieder der Konservativen Partei sind ja nicht repräsentativ für die ganze Bevölkerung des Vereinigten Königreichs. Das Durchschnittsalter der eingeschriebenen Tories ist siebenundfünfzig Jahre; sie sind mehrheitlich weiss, männlich und eher vermögend.

An der Ausgangslage für den künftigen Premier ändert sich kaum etwas. Die Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus – an denen alle Lösungsvorschläge Mays gescheitert sind – bleiben dieselben. Das einzige, in dem sich die Abgeordneten einig waren, ist das Vermeiden eines harten Brexit, der nun aber eine Option ist. Brüssel ist weiterhin nicht bereit, das «Withdrawal Agreement» neu zu verhandeln, was sowohl Johnson wie Hunt anstreben. Johnson hat sogar damit gedroht, das Parlament zu vertagen, um einen harten Brexit zu erreichen. Würde er das wirklich tun?

Wie das Parlament, ist auch das Land insgesamt in einer verfahrenen Situation. Es herrscht grosse Unsicherheit. Das ist nicht gut für die Wirtschaft. Ein harter Brexit wäre zum Beispiel fatal für die Autoindustrie, deren Lieferketten stark in das benachbarte Kontinentaleuropa integriert sind. Deshalb hat Nissan beschlossen, ein neues Modell nicht wie ursprünglich vorgesehen in Sunderland zu fertigen, und Honda wird die Fabrik in Swindon schliessen.

Airbus kann im Fall eines harten Brexit keine Garantien für die 40‘000 Beschäftigten in Grossbritannien geben (Airbus produziert die Flügel des A380 in Wales). Als British Steel im Mai Insolvenz anmeldete, wurde das mit dem Brexit begründet. Das tun auch Ryanair und Tui mit Blick auf ihre roten Zahlen.

Der Finanzsektor wird besonders stark betroffen sein, da seine Institutionen die Möglichkeit, Transaktionen in Euro abzuwickeln («Passporting»), wegen des Brexit verlieren werden. Das trifft gerade das Derivatgeschäft. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht die eine oder andere Finanzinstitution ankündigt, Geschäftszweige nach Frankfurt, Paris, Dublin oder Luxemburg zu verlagern.

Die Landwirtschaft und das Gastgewerbe wiederum benötigen günstige ausländische Arbeitskräfte. Ein geregelter Brexit löst ihr Problem nicht, denn die neuen Bestimmungen sehen ein Mindesteinkommen von umgerechnet rund 38‘000 Fr. vor, was kein Kellner oder kein Zimmermädchen jemals verdient.

Der Brexit ist schon schwierig genug für grosse Unternehmen, trifft jedoch KMU noch härter, da sie nicht die Ressourcen haben, um Armeen von Rechts-, Finanz- und Steuerberatern zu konsultieren. Ferner sind noch der nationale Gesundheitsdienst NHS und die Pharmaindustrie zu nennen, die nicht genügend Medikamente gelagert haben, um für einen harten Brexit gewappnet zu sein. Die Betreiber der Häfen warnen davor, dass die nötige Infrastruktur und das Personal fehlen, um ab dem 31. Oktober ohne ein Abkommen zu funktionieren.

Es wird eng bis zum 31. Oktober

Die mangelhaften Vorbereitungen für einen «No Deal Brexit» von Regierungsseite sind erschreckend, umso mehr, als das Königreich schon zweimal kurz davor stand und erst in letzter Minute einen Aufschub erwirken konnte. Nach jeder Fristerstreckung wurden die Vorbereitungen in den Ministerien wieder auf Sparflamme gesetzt, was, gelinde gesagt, unvorsichtig war.

Bis jetzt hat der britische Aussenhandel wenig vom Brexit gespürt, weil der gesunkene Kurs des Pfunds die Exportfähigkeit steigerte und die Grenzen ja noch offen sind. Längerfristig wird sich das auf die Inflation auswirken (seit Juni 2016 hat das britische Pfund gemessen am Euro rund 14% nachgegeben). Das Vereinigte Königreich importiert etwa 50% seiner Nahrungsmittel aus Kontinentaleuropa. Besonders einkommensschwächere Käuferschichten werden von steigenden Preisen für Güter des Grundbedarfs betroffen sein.

Boris Johnson vertraut nun auf Artikel 24 der Welthandelsorganisation WTO, demzufolge bisherige Aussenhandelsbedingungen weiter bestehen können, bis ein Abkommen zwischen den Parteien ausgehandelt ist. Mag zwar sein, doch Johnson übersieht, dass diese Bestimmung im Fall eines harten Brexit nicht zum Zuge käme, da ja kein Abkommen in Aussicht steht.

In einem Monat wissen wir, wer der neue Premierminister sein wird. Er wird dann ein Kabinett bilden und das Parlament wird in die Sommerpause verreisen. Irgendwann im September werden sich Exekutive und Legislative wieder voll um den Brexit kümmern. «D-Day» ist der 31. Oktober. Die Zeit wird knapp.