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Westeuropa vor goldenen Zeiten

Frankreich steigt wirtschaftlich auf, das Vereinigte Königreich ab. Auf dem Kontinent beginnen ökonomisch bessere, auf der Insel schlechtere Zeiten. So lassen sich die Ergebnisse der britischen und der französischen Parlamentswahlen der vergangenen Tage zusammenfassen. Die Wahlniederlage von Theresa May wird Grossbritannien aus mancherlei Gründen makroökonomisch zurückwerfen. Zunächst ist es völlig unklar, wie es mit dem Brexit, dem Austritt aus der Europäischen Union (EU), weitergehen wird. Theresa May wollte vom Volk ein starkes Mandat für einen harten Brexit. Das wurde ihr verweigert. Ob daraus jedoch bald schon Neuwahlen werden, ein «Brexit light» oder am Ende gar ein Rücktritt vom Austritt, ist momentan offen. Alles scheint aus heutiger Sicht möglich.

Sicher aber ist eines: Die Uhr tickt unbarmherzig gegen die britischen Interessen. Als Ende März London die Absicht des Brexit offiziell in Brüssel erklärte, hat gemäss Artikel 50 des EU-Vertrags eine zweijährige Verhandlungsphase begonnen. Sie soll dazu dienen, die Modalitäten der Trennung zu vereinbaren. Am 19. Juni soll es mit einer ersten Gesprächsrunde offiziell losgehen. Absehbar ist, dass der Zeitdruck enorm sein wird. Wegen der Wahlen ist viel Vorbereitungszeit ungenutzt verstrichen, und es ist wenig erkennbar, wer nun mit welchen strategischen Zielen Londons Interessen vertreten wird. Interne Zerrissenheit ist keine optimale Voraussetzung für erfolgreiche Verhandlungen mit anderen.

Trennung im Streit wäre katastrophal

Die Brexit-Verhandlungen werden bis Ende März 2019 dauern, «es sei denn, der Europäische Rat beschliesst im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern». Dieses Verfahren führt zu einer asymmetrischen Interessenlage: Kommt es bis März 2019 zu keiner Einigung, wird das Vereinigte Königreich die EU ohne Scheidungsvertrag zu verlassen haben. Eine Trennung im Streit ist für die EU ärgerlich. Für das Vereinigte Königreich wäre sie eine ökonomische Katastrophe. Es fiele nicht nur gegenüber der EU in einen quasi rechtsfreien Schwebezustand (ohne bilaterale Handelsverträge, ohne verlässliche Spielregeln für die europäischen Kapital- und Finanzmärkte. Die Rechtsunsicherheit würde ebenso die wirtschaftlichen Beziehungen mit der übrigen Welt tangieren, denn mit dem Brexit enden für London auch alle aussenwirtschaftlichen Vereinbarungen mit Drittstaaten.

Mit dem Brexit bleibt dem Vereinigten Königreich einzig noch der Status eines Mitglieds der Welthandelsorganisation (WTO). Mit allen Ländern – also nicht nur mit der EU, von der man sich gerade im Streit getrennt hat – müssen danach neue bilaterale Handels- und Investitionsabkommen vereinbart werden. Für die Finanzmetropole London und den für das Land dominanten Dienstleistungssektor insgesamt sind institutionelle Unsicherheiten eine existenzielle Bedrohung, denn immaterielle Aktivitäten lassen sich im Zeitalter von Internet und Digitalisierung weit einfacher und schneller über Nacht von Land zu Land verschieben als die der verarbeitenden Industrie mit ihren fest installierten Anlagen, Produktionsstätten und Werkbänken.

Zweitens offenbart Labours Aufstieg, wie dramatisch die Notlage des Gemeinwesens und wie gespalten das Vereinigte Königreich ist. Die Leiden des Landes konnten lediglich durch die Potenz des überdimensionierten Finanzsektors vertuscht werden. Das gesamtwirtschaftliche Wachstum ist schwach. Für 2018 sagt die OECD dem Vereinigten Königreich mit 1% zusammen mit Italien (0,8%) das geringste reale BIP-Wachstum aller 28 EU-Länder voraus. Das Pro-Kopf-Einkommen lag vor der Finanzmarktkrise 2007 in Deutschland und im Vereinigten Königreich auf gleicher Höhe, heute ist es in Deutschland etwa ein Sechstel höher. Die Inflation steigt deutlich mehr als 2%, und vor allem die Mieten in den Ballungsräumen fressen einen immer grösseren Anteil vieler Haushaltseinkommen auf. Das führt dazu, dass der Lebensstandard für mehr und mehr Briten sinkt. Die reale Kaufkraft der Löhne liegt für die Masse unterhalb des Niveaus von 2007. Die Möglichkeiten, private Ersparnisse zu bilden, nehmen für die meisten Haushalte dramatisch ab, und der bisherige Lebensstandard ist nur durch zunehmende Verschuldung zu finanzieren.

Schlechtere Aussichten, zunehmende Polarisierung zwischen Besser- und Schlechtergestellten sowie fehlende Hoffnung auf Besserung treiben viele in die Arme von Jeremy Corbyns Labour. Labour jedoch tritt mit einem Wirtschaftsprogramm auf, das eher aus einer totgeglaubten Vergangenheit stammt als auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Digitalisierung, Globalisierung, Urbanisierung, Individualisierung – ausgerichtet ist. Massive Umverteilung finanziert durch massive Steuererhöhungen, Verstaatlichungen, Re-Regulierung, Revitalisierung alter Arbeitsgesetze aus dem Industriezeitalter sind die Eckpfeiler des Corbynismus. Damit wird das Land seine (Brexit-)Probleme nicht lösen, sondern verschärfen. Gerade für den Finanzsektor dürften die angekündigten Grausamkeiten, Brexit hin oder her, die Flucht auf den Kontinent beschleunigen.

An der Stelle zeigt sich der fundamentale Unterschied des Vereinigten Königreichs zu Frankreich. Während UK zurück in die glorreiche, aber längst durch Globalisierung und Digitalisierung obsolete Vergangenheit strebt und mit alten konservativ-nationalistischen Rezepten (Tories) bzw. ebenso veralteten sozialistischen Ideologien (Labour) auf künftige Herausforderungen reagieren will, geht Frankreich einen Schritt nach vorn.

Allein schon die Wahl des parteilosen Emmanuel Macron zum jüngsten Präsidenten aller Zeiten belegt, dass die französische Bevölkerung die grossen Zukunftsthemen nicht mehr mit Verfahren aus längst vergangenen Frühphasen nationalstaatlicher Demokratien bewältigen will. Dass die von Macron als Bewegung gegründete und danach zur Partei mutierte «La République en marche!» (LREM) nun in den Wahlen zur Nationalversammlung mit einem Drittel aller Stimmen am Sonntag einen klaren Sieg erreicht hat, bestätigt den Willen zur Modernisierung Frankreichs. Nächsten Sonntag winkt die absolute Mehrheit und damit die Möglichkeit, im Alleingang umzusetzen, was angekündigt wurde.

Kontraste über den Kanal

Macron und seine LREM wollen den Arbeitsmarkt deregulieren und die Sozialpartnerschaft dezentralisieren. Es soll möglich werden, auf Betriebsebene zwischen Unternehmensleitung und Angestellten der konkreten Situation vor Ort entsprechende Löhne, Arbeitszeiten und Beschäftigungsgarantien auszuhandeln. Unternehmen sollen steuerlich und bürokratisch entlastet, die Verwaltung verschlankt und effizienter gemacht werden. Und die EU soll bei allem eine grössere und nicht eine kleinere oder gar keine Rolle spielen. Unterschiedlicher könnte Frankreichs EU-freundliches Kontrastprogramm zur national(istisch)en Strategie der Tories und zur Ideologie Labours nicht sein. Unabhängig vom Brexit dürften Konzerne, Investoren und wirtschaftliche Aktivitäten Frankreich und den Kontinent statt die Insel als Standort für Sitz und Tätigkeit wählen.

Mit Macron und seiner Partei erhalten Frankreich und die EU eine historische Chance, das Erbe des Vereinigten Königreichs anzutreten. Deutschlands industrielle Kernkompetenzen bei Investitionsgütern und Frankreichs herausragende Wettbewerbsfähigkeit bei qualitativ anspruchsvollen (Luxus-)Konsumgütern versprechen eine attraktive Kombination für die weltweit unverändert steigende Nachfrage der aufstrebenden Volkswirtschaften nach hochwertigen Qualitätsprodukten. Kommen jetzt noch leistungsfähige ehemals britische Dienstleistungsunternehmen des Finanzsektors aus Paris und Frankfurt dazu, steht goldenen Zeiten für Westeuropa wenig entgegen.

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