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Werden noch mehr Italiener mit den Füssen wählen?

Der unschlüssige Ausgang der italienischen Parlamentswahlen, mit eindeutig populistischen Tendenzen, wird wahrscheinlich zu einem längeren politischen Patt führen und die Behandlung dringend nötiger Strukturreformen einfrieren. Doch der Stillstand und die damit verbundene Wahrnehmung, dass das Land nicht bereit ist, sich zu ändern, könnten eine weitere abschreckende Wirkung haben: So werden mehr von Italiens Spitzentalenten ins Ausland gedrängt, was diesen Trend verschärfen wird, der das Land seit mehr als einem Jahrzehnt plagt.

Seit 2007 haben fast 1,5 Mio. Italiener das Land verlassen und sich 4 Mio. Expats aus früheren Jahren beigesellt. Die Zahl ins Verhältnis gesetzt: Derzeit leben etwa 8% der italienischen Bevölkerung im Ausland. Die tatsächliche Zahl könnte jedoch höher sein. Italienische Expats verzichten darauf, den nationalen Behörden ihren wahren Aufenthaltsstatus offenzulegen, um ihren Zugang zu Leistungen wie der kostenlosen Gesundheitsversorgung zu erhalten.

Rund ein Drittel dieser Emigranten hat einen Universitätsabschluss. Viele von ihnen sind hoch qualifizierte Fachleute, die in den Bereichen Finanzen, Beratung, Wissenschaft, Architektur oder Recht tätig sind. Geschichten über italienische Unternehmer, die in Gegenden wie dem Silicon Valley erfolgreiche Gesellschaften gründen, sind Legion.

Elite zieht weg

Frankreich, Deutschland, das Vereinigte Königreich und die USA sind die Hauptmagneten. London gilt als die fünftgrösste Stadt Italiens, nach Rom, Mailand, Neapel und Turin, mit rund 250’000 Italienern. Nicht einmal der Brexit hat, entgegen den vorherrschenden Trends in Westeuropa, die Einwanderung aus Italien gestoppt. Dies ist ein deutliches Symptom für die unbefriedigenden Bedingungen zu Hause, wo ein rigider Arbeitsmarkt, unzureichende Mittel für akademische Forschung und Start-ups und ein sozioökonomisches System, das die Älteren begünstigt, verhindern, dass Individuen ihr volles Potenzial ausschöpfen.

Aber Italien verliert nicht nur fähige, ehrgeizige und visionäre Fachkräfte. Seine intellektuelle Elite strömt ebenfalls aus dem Land. OECD-Daten für die Jahre 1996 bis 2011 zeigen, dass Italien unter den grössten europäischen Ländern sozusagen einen Nettobeitrag von Wissenschaftlern an den Rest der Welt leistet. Erschwerend kommt hinzu, dass es Forscher mit bedeutender Publikationsleistung gegen mittelmässige Wissenschaftler eintauscht.

In den Wirtschaftswissenschaften lehrten sieben der acht Träger der Carlo-Alberto-Medaille, die alle zwei Jahre an einen herausragenden italienischen Ökonomen von unter vierzig Jahren verliehen wird, an Elite-Universitäten im Ausland. Wenn man die Spitze der Talentverteilung betrachtet, ist die Situation noch entmutigender. Mit wenigen Ausnahmen haben italienische Träger des Nobelpreises, der Fields-Medaille in Mathematik, des Pritzker-Preises für Architektur oder des Breakthrough Prize in Life Sciences ihre Karriere im Ausland gemacht.

Doppelter Verlust

Der Verlust für das Land ist zweifach. Erstens werden diejenigen, die gehen, normalerweise in Italien auf Staatskosten ausgebildet: ungefähr 600’000 $ für die gesamte Schullaufbahn jedes Hochschulabsolventen. Es ist, als hätte das Land seit 2007 jedes Jahr vier bis fünf Prozentpunkte des BIP eingebüsst. Zweitens verliert Italien, weil Expats normalerweise am wenigsten mit dem Status quo zufrieden sind, die wahrscheinlichsten Kräfte des Wandels – diejenigen, die eine stagnierende Wirtschaft beleben und die Innovation fördern würden.

Wenn es Italiens Präsidenten Sergio Mattarella gelingt, die Parteien zu einer Regierung der nationalen Einheit zu drängen, sollte er das Braindrain-Problem ganz oben auf die politische Tagesordnung setzen, neben Arbeitsmarkt, Finanzsektor und Rentensystem. Da es sich hier um ein nationales Anliegen handelt, würde sich kein politisches Lager dagegen sträuben. Um das Engagement der Regierung in dieser Sache zu belegen, sollte der nächste Premierminister das Kabinett mit einem Diaspora-Minister ergänzen.

Idealerweise sollte Italien dem Braindrain begegnen, indem es die notwendigen Reformen annimmt, um seine eigenen Talente zu behalten und wieder anzuziehen. Aber selbst wenn die derzeitige parlamentarische Konstellation reformorientierter wäre, würden sich die Auswirkungen solcher Massnahmen erst auf lange Sicht herausstellen. Das Diaspora-Ministerium sollte sich auf Sofortmassnahmen konzentrieren, wie zum Beispiel Engagement-Strategien und emotionale Bindung der Expats an ihre Heimat.

Das Potenzial der Expats anzapfen

Diese können auch aus der Ferne zur Erneuerung des Landes beitragen, indem sie den Rückfluss von Wissen, Geld und Innovationen nach Italien steigern, dessen Anliegen international fördern, lokale Unternehmen mit dem Weltmarkt verbinden und Partnerschaften mit Forschungszentren oder privaten Unternehmen im Ausland aufbauen. Eines Tages, wenn eine echte Veränderung eintritt, könnten sie sogar entscheiden, nach Hause zurückzukehren.

Das neue Ministerium sollte die Diaspora erfassen und detaillierte Profile der Fähigkeiten und des Fachwissens der wichtigsten Köpfe Italiens im Ausland erstellen. So wäre es möglich, das Ausmass des Braindrain zu beurteilen, eine Brücke zu potenziellen heimischen Arbeitgebern zu bauen und die erfolgreichsten Emigranten in philanthropische und Mentorprojekte einzubeziehen. Darüber hinaus sollte die Regierung regelmässig Veranstaltungen mit Expats durchführen und ihre Ideen und Erfahrungen nutzen, um Innovation, Unternehmertum und das Wachstum von Schlüsselindustrien zu fördern.

Beispiel Irland

Irland ist die beste Inspirationsquelle für ein solches Programm. Seit 2009 kennt Irland ein Programm mit dem Titel Global Irish. Damit werden die Verbindungen mit der grossen Diaspora gepflegt, durch die Einrichtung eines Ad-hoc-Ministeriums und die Verabschiedung gezielter Massnahmen wie das Global Irish Economic Forum. Irlands beeindruckende Erholung von der Finanzkrise von vor einem Jahrzehnt wäre ohne die Unterstützung, den Rat und das Engagement der irischen Diaspora nicht möglich gewesen.

Zu lange hat Italien seine Abwanderung von Fachkräften ignoriert. Paradoxerweise bietet die derzeitige Pattsituation eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich damit zu befassen.

Copyright: Project Syndicate.

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