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Wer ist der Praktikus?

Herkunft und Identität des «Praktikus» sind und bleiben mysteriös. Der Nom de Guerre ist alles, was wir von dieser Person wissen. Ausgiebige Nachforschungen im Archiv von «Finanz und Wirtschaft» belegen, dass es in der Ausgabe vom Mittwoch, 3. Juli 1968, erstmals hiess: «Lieber Investor … Praktikus» (noch ohne «Ihr» und nur eine halbe Spalte lang).

Die Entstehungsgeschichte dieser längst unverzichtbaren Rubrik liegt tatsächlich im Dunkeln, selbst für FuW-Insider. Wer der Ideengeber dazu war, wer den «Praktikus» zunächst schrieb, kann nur vermutet werden: am ehesten FuW-Mastermind Alfred Isler, denn diese Bemerkungen zum Marktgeschehen sehen denn doch nach Chefsache aus. Mit den Jahren etablierte sich der «Praktikus» als die zusammenfassende, ein Fazit ziehende, (oft) den Finger auf wunde Punkte legende, (seltener) lobende, die Wege weisende Stimme des Blattes, der Marktmeinungsmacher quasi.

Kaufen, verkaufen – was sonst

Immer ging und geht es ihm, selbstverständlich vollkommen ungeniert und mit Gusto politisch inkorrekt, ums Geldverdienen auf den Finanz- und Kapitalmärkten, oder wenigstens darum, Verluste zu vermeiden. Geldverdienen, darunter verstand der allererste «Prakti», wie die Rubrik auf der Redaktion heutzutage gerne genannt wird, «Substanzerhaltung + Gewinn innert absehbarer Zeit». Das ist von zeitlos gültiger Schlichtheit. Konkret empfahl der «Praktikus» in seiner Premiere Grossbanktitel und Chemie, namentlich Geigy, zudem BBC.

Das turbulente politische Umfeld von damals – Studenten in Paris für, in Prag gegen den Sozialismus, vereinfacht gesagt – kümmerte den «Praktikus» nicht. Er war eben kein «Theoretikus»; seine Auslegung des Kapitalismus fokussierte auf Geld und Brief, auf Nachfrage und Angebot, auf Markt statt auf Marx sowieso. In der zweiten Ausgabe, am 10. Juli, riet er doch tatsächlich, auf eine «Summer Rally» zu setzen, «denn politisch und wirtschaftlich hat sich wenig verändert».

Nun ja, wirtschaftlich vielleicht nicht, doch der Krawall-Mai 1968 hatte in Paris und anderswo in Europa sowie in Nordamerika tiefe Spuren hinterlassen; der Prager Frühling stand noch in welker Blüte (im August rollten dann die Panzer des Warschauer Pakts darüber, was das moralische Ende des Sowjetkommunismus bedeutete). Die politischen Spätfolgen der Unruhen in Ost und West liessen sich damals jedoch noch nicht abschätzen. Kursrelevant waren die ’68er Ereignisse – die hierzulande von gediegen in Rente lebenden Veteranen (nicht zuletzt, weil ihre Pensionskassen in Aktien anlegen) gerne verklärt werden – zu keiner Zeit. Die vergleichsweise folkloristischen Globuskrawalle, die Ende Juni in Zürich die Gemüter erregten, waren dem abgebrühten Marktbeobachter «Praktikus» keine Zeile wert, völlig zu Recht.

Es ist übrigens mehr als ein Gerücht, dass es in Wohlstand ergraute Zürcher Beinaherevoluzzer gibt, die heute den sozusagen immergrünen ’68er «Praktikus» mit Hingabe lesen, um, unterdessen gründlich ernüchtert, ihr Privateigentum optimal zu investieren. Es gibt ja den nicht gar so bösartigen Spruch: Wer mit zwanzig nicht links ist, hat kein Herz, wer es mit vierzig immer noch ist, hat keinen Verstand.

Doch nochmals: Wer ist das Phantom vom Paradeplatz, das Gespenst der Bahnhofstrasse, das Orakel der SIX? Der deutsche Populärphilosoph Richard David Precht würde wohl fragen: «Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?» Es liegt auf der Hand, dass der «Prakti», der sich seit Jahren, nein: einem halben Jahrhundert in jeder Ausgabe zu Wort meldet und weit mehr Platz erhält als in seinen Anfangszeiten, auch mal Ferien macht oder krank ist. Ferner wirkt er heute noch derart jugendfrisch, dass ein Dienstalter von sechzig Jahren und somit ein Lebensalter von vielleicht neunzig unwahrscheinlich sind.

Durch Crash und Krisen

Dieses sei also eingestanden: Der «Prakti», das waren über die Zeit mehrere Personen. Weil er (oder sie?) ein faustischer Charakter ist – «zwar weiss ich viel, doch möcht’ ich alles wissen» –, drängt sich die Vermutung auf, dass der «Praktikus» seine Kolleginnen und Kollegen auf der Redaktion mit Fragen löchert, sie zum Nachdenken und Nachprüfen anregt, sich mit ihnen unterhält, etwa über Kursbewegungen, Unternehmensnachrichten, Managementtransaktionen, Gerüchte usf.

Welchen Anlagestil empfiehlt der «Praktikus» denn? Engstirnig doktrinär ist er nicht, doch was er anno 1968 zum Credo erhob, «Substanzerhaltung + Gewinn innert absehbarer Zeit», weist darauf hin, dass der «Praktikus» seinen Benjamin Graham gelesen hat, also den Ideen der fundamentalen Wertpapieranalyse und somit tendenziell dem Value Investing zuneigt: Der Anlageerfolg liegt im günstigen Einkauf und im Verkauf, sobald die Kurse (zu) teuer sind. Die wechselnden Moden und «Hypes» an den Finanzmärkten – von denen er besonders, aber nicht ausschliesslich die schweizerische Aktienbörse im Blick hat – beurteilt er eher skeptisch.

Der «Praktikus» ist crash- und krisengestählt – 1987, 2001, 2008. Dank seinem «Value Bias» sieht er in Korrekturen in erster Linie die Chance, zu vernünftigen bis günstigen Preisen einzukaufen.

Ins Bild, das man sich vom «Praktikus» machen kann, passt durchaus, dass er gelegentlich als Contrarian agiert, also der Marschrichtung der Anlegerherde entgegenläuft. Wenn er jedoch in bestimmten Titeln Momentum ahnt, ist er einem opportunistischen Zukauf nicht grundsätzlich abgeneigt; er kann ja ohnehin stets auf eine überdurchschnittliche Liquiditätsposition zurückgreifen: Zu jeder Zeit handlungsfähig und nicht zu Notverkäufen gezwungen zu sein, ist für den «Praktikus» ein Gebot. Sicher ist der «Praktikus» jedoch kein Trader, das ist ihm zu unernst, zu kurzfristig, zu teuer: Hin und her macht die Taschen leer.

Keine Beisshemmungen

Hat der «Praktikus» Sektorvorlieben oder -abneigungen? Im Prinzip nicht; er fährt, wenn er es, in seiner Rolle als Interessenwahrer der Publikumsaktionäre für angezeigt hält, jedwedem Management aus jeder Branche an den Karren. Er fordert auch schon mal einen Kopf und handelt sich und FuW damit  gelegentlich herzhafte Reaktionen ein, bis zum Inserateboykott.

Doch das macht den «Praktikus» nur noch bissiger. Er hat einen sechsten Sinn entwickelt für – Pardon – «Bullshit» (in Lehrgängen für Corporate Communications heisst das sicher viel edler), den ab und zu manche Manager oder Verwaltungsräte von sich geben, um die breite Besitzerschaft abzulenken, wenn im betreffenden Unternehmen etwas wirklich Unappetitliches am Dampfen ist. Der «Praktikus» selbst hätte die Frage nach Sektorneigungen undiplomatischer beantwortet – sagen wir es so: Den Finanzsektor, wenigstens dessen Teile, die sich in jüngerer Vergangenheit als irritierend fragil erwiesen haben, beobachtet er besonders kritisch.

Lassen wir es bei diesen Skizzen bewenden. Der «Praktikus» ist eine Stimme am Schweizer Finanzmarkt, die beachtet wird. Er (sie?) unterstützt die Marktteilnehmer in ihrer Entscheidfindung. Private wie institutionelle Anleger verfolgen ihre eigenen Ziele; in der Gesamtheit ihrer Kauf- und Verkaufsaufträge entstehen ungewollt Marktsignale, die allen dienen. Der grosse Ökonomen und Philosoph Adam Smith sprach von der «Invisible Hand».

Die Hand des «Praktikus» ist auch unsichtbar, doch die Handschrift bleibt deutsch und deutlich.