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Von Kanada lernen

Unsere Altersvorsorge steuert auf ein riesiges Defizit zu. Experten sprechen von einer zu erwartenden kumulierten Finanzierungslücke von ein- bis zweimal der Grösse des Bruttoinlandprodukts der Schweiz – einer impliziten Staatsschuld oder einem Zahlungsversprechen des Staates gegenüber seinen Bürgern, das er offensichtlich nicht halten können wird, wenn wir nicht bald etwas dagegen unternehmen.

Und wir tun schon seit Jahrzehnten praktisch nichts, obwohl wir das Problem schon lange kennen und es ganz «souverän» allein lösen könnten. Das ist, als ob ein Schiff auf einen Eisberg zufährt und sowohl Kapitän wie auch Besatzung hoffen, der Eisberg werde verschwinden, bis man dort ankomme.

Wo liegt das Problem? Eng betrachtet geht es um die sogenannte schweizerische Alterspyramide, die sich wegen der Babyboomer-Generation in eine unvorteilhafte Figur mit einem grossen Bauch von heute 45- bis 60-Jährigen verwandelt hat.

Sobald die «Bewohner» des Bauchs, die Babyboomer, pensioniert werden, reichen die heutigen und die künftigen, durch die Nachkommen der Babyboomer bezahlten AHV-Beiträge nicht aus, um die erwarteten Zahlungen an die dann pensionierte Generation zu decken.

Man könnte nun meinen, das Problem der «zu wenigen, die für zu viele» aufkommen müssen, löse sich langfristig von allein: Die wenigen Nachkommen der Babyboomer dürften selbst weniger Nachkommen haben und so keinen neuen Bauch schaffen. Auch wenn das so ist, bleibt die Bewältigung der temporären Unterfinanzierung eine grosse Herausforderung für die Gesellschaft. Dass es bisher nicht zu grösseren Finanzierungsengpässen gekommen ist, liegt aber auch daran, dass die Babyboomer kräftig in die AHV einzahlen für die bisher relativ wenigen AHV-Bezüger.

Sinnloser Abbruch mit 64 oder 65

Etwas breiter betrachtet entpuppt sich das ganze System als veraltet. Nicht die Existenz der AHV auf der Basis des Umlageverfahrens als Ergänzung zur zweiten (Pensionskasse) und zur dritten (Eigenvorsorge) Säule ist gemeint; das passt nach wie vor. Überholt ist die Vorstellung eines einheitlichen und über die Zeit unveränderten Pensionsalters für alle.

Erstens nimmt die Belastung der Jungen mit steigender Lebenserwartung zu. Man vergegenwärtige sich, dass bei der Einführung der AHV 1948 die Lebenserwartung bei Geburt (bzw. im Alter 65) für Männer 66 Jahre (12 Jahre) und für Frauen 71 Jahre (14 Jahre) betrug. Heute sind es für Männer 82 bzw. 20 Jahre und für Frauen 86 bzw. 23 Jahre (Bundesamt für Statistik).

Zweitens bedeutet dies, dass wir heute bereits dann in den «wohlverdienten Ruhestand» übertreten, wenn viele von uns von Ruhe eigentlich noch gar nichts wissen möchten. Und was heisst «wohlverdient»? Natürlich sind wir nicht alle gleich stark motiviert zu arbeiten. Nicht von ungefähr erhalten wir für das Arbeiten einen Lohn.

Aber allein die Idee, sich beim Erreichen des 64. bzw. 65. Geburtstags von heute auf morgen nur noch mit Wandern, Reisen usf. zu beschäftigen, nachdem man sich vorher mit Engagement etwas anderem gewidmet und sich darauf in der Ausbildung gut vorbereitet hat, ergibt keinen Sinn – zumal das Leben dann im Durchschnitt heute noch 23 bzw. 20 Jahre dauert.

In der Schweiz werden immer dieselben Lösungen diskutiert: Harmonisierung des Rentenalters beider Geschlechter auf 65, Erhöhung des offiziellen Rentenalters um zwei bis drei Jahre, Erhöhung des Beitragssatzes und der Mehrwertsteuer, Plafonierung oder gar Reduktion der Rente für alle oder nur für diejenigen, die im Leben viel gespart haben.

Gelegentlich wird auch eine gewisse Flexibilisierung des Renteneintritts angesprochen – meist auf der Basis des schwedischen Modells: Wahl des Pensionierungszeitpunkts in einem Alterskorridor zwischen 61 und 67. Erhöhungen des Rentenalters hatten bisher – zumindest in der parteipolitischen Diskussion – in der Schweiz keine Chance.

Neben der Tendenz, dass die baldigen Bezüger ihre «wohlerworbenen Rechte» nicht leichtfertig aufgeben wollen, hört man auch das Argument, dass ältere Personen heute ohnehin geringe Chancen im Arbeitsmarkt hätten. Hierzu ist anzumerken, dass die 50-plus-Generation heute nicht ein höheres Risiko hat, arbeitslos zu werden.

Einzig bei Entlassungen aufgrund von Konkurs oder Umstrukturierungen haben Angehörige dieser Gruppe grössere Schwierigkeiten, wieder eine Stelle zu finden, als jüngere Kollegen. Dies könnte aber genau mit dem fixen Pensionsalter zusammenhängen: Für Unternehmen lohnt es sich kaum, eine 58-jährige, kurz vor der allseits bekannten Pensionierung stehende Arbeitnehmerin neu einzuarbeiten.

Warum also nicht das vorgegebene Pensionsalter abschaffen? Genau das haben die Kanadier 1982 mit der Einführung der Canadian Charter of Rights and Freedoms gemacht. Diese Charta verbietet die Diskriminierung aufgrund des Alters und hat mit der Zeit in den einzelnen Provinzen dazu geführt, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund des Alters unzulässig geworden ist.

Diese Politik beruht letztlich auf der Erkenntnis, dass Altersdiskriminierung nicht nur (wie bei uns betont) im Zusammenhang mit der Nichtanstellung einer älteren Person vorkommt, sondern auch bei der Nichtfortführung des Anstellungsverhältnisses.

Natürlich gibt es in Kanada Ausnahmen, wenn das Alter nachweislich die Sicherheit beeinträchtigt (zum Beispiel bei Feuerwehrmännern oder Piloten). Das Alter 65 hat als Orientierungspunkt für die Berechnung der Auszahlungen des Canada Pension Plan (CPP), des Pendants zur AHV, zwar nach wie vor eine gewisse Bedeutung, doch letztlich bestimmen die Arbeitnehmer selbst, wann sie in Pension gehen. Wer länger arbeitet, erhält mehr, wer sich früher pensionieren lässt, erhält weniger Rente.

Die Erfahrungen in Kanada sind insgesamt positiv. Es entstand, zumindest nach einer Übergangsphase, kein «Stau» – wie einige befürchteten –, indem ältere Mitarbeiter den jüngeren die Arbeitsplätze versperren. Es gab auch nicht mehr Arbeitslose. Vielmehr zeigt die Erfahrung, dass viele Leute ihren Rücktritt aus dem Arbeitsleben kreativer gestalten und sich an den eigenen Bedürfnissen orientieren. Die Arbeitgeber wiederum bieten je nach Bedarf flexible Arbeitsverträge an und können so auch wertvolles Humankapital eher behalten.

Flexibilität gewonnen

Ein Beispiel wie dasjenige von Kurt Wüthrich, Nobelpreisträger und Professor für Chemie an der ETH Zürich, wäre in Kanada wohl undenkbar. Ihm wurde nach seiner Pensionierung an der ETH eine Anstellung über das 65. Lebensjahr hinaus zunächst verweigert, worauf er sich entschloss, seine Forschung in den USA fortzusetzen.

Eine Herausforderung ist allerdings, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nun mit einer nicht mehr automatisch eintretenden Pensionierung auseinandersetzen und individuell optimale Arrangements finden müssen. Aber auch hier zeigt das Beispiel Kanada, dass dies funktionieren kann. Schliesslich eröffnet diese Individualisierung des Pensionierungsentscheids neue Chancen in einer Gesellschaft, in der sich das Arbeitsverhältnis in Zukunft ohnehin stark verändern wird.

Auf die Frage, was der wichtigste Vorteil der Abschaffung des obligatorischen Pensionsalters in Kanada sei, antwortete David Green, Arbeitsökonom an der University of British Columbia in Vancouver, kürzlich: «Die dadurch gewonnene Flexibilität, die Abhängigkeitsrate der in Pension gehenden Babyboomer etwas zu reduzieren». Lernen wir doch von Kanada. Vielleicht gelingt es so, dem «Eisberg» doch noch auszuweichen. Wir werden alle profitieren: Jung und Alt.