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Steve McCurry: Starker Blick

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Tsurunoyu in Japan
Steve McCurry: «Ich suche Unerwartetes. Kontrollierte Zufallsmomente, bei denen man unerwartet Interessantes entdeckt, nach dem man gar nicht gesucht hat.»
Chand Baori, Wasserstelle in Indien aus dem 8. Jahrhundert vor Christus

Steve McCurry war lange für amerikanische Medien in Krisengebieten unterwegs und hat seine journalistischen Reflexe seither nicht verloren. Er komponiert seine Bilder nicht, er lebt sie. Seine Fähigkeit, natürliches Licht, in einen farbgewaltigen Bilderkosmos zu verwandeln, ohne künstlich nachzuhelfen, macht seine Aufnahmen zu Zeitzeugen.

Der Reisereporter ist noch immer Mitglied der berühmten Agentur Magnum und hat für seine grossartige Arbeit auch schon die Robert-Capa-Goldmedaille erhalten. Er besitzt das seltene Talent, das Ergreifende, Eindrückliche und Faszinierende des Alltags ungeschminkt in unvergesslichen Momentaufnahmen wiederzugeben.

Das kann ein von der harten körperlichen Arbeit gezeichneter Mann in Rajasthan sein. Oder eine Nonnenprozession in Burma, die er tagelang begleitet hat, um das perfekte Bild zu schiessen. Oder aber der Blick des afghanischen Mädchens, das die Hoffnung eines vor dem Zusammenbruch stehenden Landes spiegelt.

Aus der Weltreise namens Overseas, zu der er im Februar gestartet ist, hat Steve McCurry ein Abenteuer gemacht. Overseas wurde von Vacheron Constantin ins Leben gerufen und besteht darin, an zwölf ungewöhnlichen Orten, unter anderem in Mexiko, Indien, China, den USA und in Japan, Symbole des menschlichen Schaffens aufzuspüren.

Der Zufall des Augenblicks und der Weg, um ihn einzufangen, seien das Beste am Fotografieren, sagt Steve McCurry. Er hat «Luxe» bei seinem Aufenthalt in der Schweiz in einem Exklusivgespräch mehr über sein Schaffen erzählt.

Wie arbeiten Sie? - Manchmal weiss ich sofort, dass ich ein gutes Foto geschossen habe, aber meistens drücke ich wie wild auf den Auslöser und merke erst am Abend, dass mir eine ungewöhnliche Aufnahme gelungen ist. Wenn man mit dem Fotografieren anfängt, ist es in der Hitze des Gefechts oft schwierig abzuschätzen, ob ein Bild gut ist. Dazu braucht es enorm viel Erfahrung. Mit der Zeit wird es zum Reflex, das Dreidimensionale eines Anblicks in ein zweidimensionales Bild zu übertragen. Mit zunehmender Routine ist man in der Lage, die eigenen Vorstellungen in zwei Dimensionen auf Papier oder auf dem Bildschirm zu bearbeiten. Am Anfang schaut man nicht wirklich hin, und auf dem Foto scheint alles flach.

Sie verwenden möglichst viel natürliches Licht und bedienen sich keiner künstlichen Lichtquellen. Komponieren Sie Ihre Bilder in dieser Hinsicht nie? - Man kann überall ein gutes Bild realisieren. Es ist alles eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Wenn Sie mir auftragen, eine grosse Fotoreportage in den gediegenen Uhrensalons von Genf (wir trafen uns am Salon International de la Haute Horlogerie, Anm. d. Red.) zu realisieren, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich klein, dass es mir gelingt, eine grosse Geschichte in Bildern zu erzählen. Wären wir in Indien, wäre das komplett anders. Das Licht, der Staub, die Kontraste und streunende Hunde sind dabei eine grosse Hilfe.

Ist es auch schon vorgekommen, dass Sie aufs Fotografieren verzichtet haben, weil die Situation zu unangenehm gewesen wäre? - Nein. Ich bin der festen Meinung, dass man alles fotografieren kann. Ich denke, man sollte sich selbst nicht zensieren, vor allem nicht in einem Krisengebiet oder wenn es um menschliche Not geht. Es ist schon passiert, dass ich bei einer allzu privaten Situation nicht stören wollte, aber das ist eher selten. Mitten im Geschehen darf es keine Zensur geben. Mein Spielraum beschränkt sich auf die Auswahl der Bilder, wenn der Tag vorbei ist.

Nach Ihren diversen Aufenthalten in Afghanistan, wo auch das berühmte Bild des Mädchens mit den grünen Augen entstanden ist, haben Sie beschlossen, in Afghanistan die NGO ImagineAsia zu gründen. Woraus besteht Ihre Arbeit vor Ort? - Anfangs haben wir vor allem Kleider, Schuhe und lebensnotwendige Güter nach Afghanistan geschickt. Heute engagiert sich die NGO dank meiner vor Ort arbeitenden Schwester überwiegend für die Ausbildung junger Mädchen. Wir senden ihnen gebrauchte Kameras, und ein Lehrer unterrichtet sie in Fotografie. Sie wachsen heran und fotografieren dabei ihre Eltern, ihre Familie, ihr Dorf und die Natur. Sie können so die Lage ihres Landes und die Sicht auf die Welt auf eine andere Art erfassen. Das fördert ihre Beobachtungsgabe. Autor oder Autorin eines Bildes zu sein, ist eine grosse Genugtuung.

Ihre Begegnung mit dem afghanischen Mädchen mit den grünen Augen war ein Meilenstein Ihrer Karriere. Das Bild ging um die Welt. Zwanzig Jahre später werden Sie sich für ein zweites Porträt erneut mit ihr treffen. War das Ihre Idee, und was haben Sie vorgefunden? - Ja, das war meine Idee. Das Mädchen von damals ist heute mit einem Bäcker verheiratet, Mutter von drei Kindern und lebt in sehr ärmlichen Verhältnissen in einem kleinen afghanischen Dorf. Sie hat viele Jahre in einem Flüchtlingslager überlebt.

Hat sie Sie wiedererkannt? - Ich glaube nicht, dass sie mich erkannt hat. Sie erinnerte sich, dass jemand von ihr Fotos gemacht hatte, denn sie war zuvor noch nie fotografiert worden. Dieser Moment hat sich wohl in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie war damals sehr neugierig, als sie das erste Mal eine Kamera sah.

Wusste sie, dass ihr Porträt um die Welt gegangen ist und jeder ihr Gesicht kennt? - Nein. Wir haben es ihr erklärt, aber sie hat nicht verstanden, warum. Sie ist Analphabetin, deshalb konnte sie auch nichts damit anfangen, dass ihr Foto auf der Titelseite von Zeitschriften abgebildet wurde. Das ist nicht ihre Welt.

Was wollten Sie mit diesem zweiten Bild zeigen? - Ich wollte wissen, was aus ihr geworden ist, wie sie heute aussieht. Zum Zeitpunkt der ersten Aufnahme war sie erst zwölf Jahre alt, als ich sie wiedergesehen habe, dreissig. Sie wirkte jedoch viel älter. Das Leben in ihrem kleinen afghanischen Dorf ist hart.

Erzählen Sie uns, was Sie an dem Overseas-Projekt von Vacheron Constantin reizt. - Menschliche Talente aufzuspüren. Der Auftrag besteht darin, vom Mensch Geschaffenes, Verwandeltes und Gebautes mit der Kamera festzuhalten. Das Projekt dreht sich um besondere menschliche Leistungen, darum, was er imstande ist zu verwandeln, um Neues zu schaffen. Ich habe deshalb auch sofort zugesagt.

Normalerweise arbeiten Sie mit der Unendlichkeit der Landschaften und der Blicke. Die Uhrmacherei aber erzählt die Geschichte von unendlich Kleinem. Wie sind Sie bei Ihrem Besuch in der Uhrenmanufaktur von Vacheron Constantin in Genf mit diesen komplett anderen Voraussetzungen umgegangen?

Ich habe das Bedürfnis verspürt, mich  in der Manufaktur zu bewegen und umzusehen und hier und dort länger zu verweilen und zu beobachten. Das mache ich immer vor einer Reportage. Ich schaue, ich überlege und lasse meine Fantasie spielen. Später komme ich zurück, gehe wieder und komme erneut zurück. Alles ist ja schon da. Die Instrumente, die Bewegungen, die Uhrmacher, die Hände, die Gesten…

Wie sehen Ihre nächsten Projekte aus? - Im Rahmen eines Bildbandprojekts werde ich nach New Delhi, Jodhpur und danach nach Bombay reisen. Ich bin ständig unterwegs und an vielen Projekten und Ausstellungen beteiligt. So verbrachte ich zum Beispiel viel Zeit in Italien, um ein Volksfest in Umbrien zu dokumentieren. Es war ein grossartiges und sehr interessantes Erlebnis. Dort bin ich in einer schmalen Gasse einer Frau von blendender Schönheit begegnet und habe die «Frau mit dem roten Turban» sofort fotografiert. Ein paar Stunden später lief ich ihr erneut über den Weg. Etwas an ihr war spektakulär, sie hat ein einzigartiges Gesicht. Man ist überrascht, wenn man einer solch seltenen Schönheit begegnet.

Wie würden Sie Ihre Inspiration beim Aufnehmen eines Bildes beschreiben? - Es ist eine Frage des Augenblicks und winziger Nuancen. Ich spüre die Energie einer Person eigentlich nicht. Wenn die Aufnahme nicht so abläuft, wie ich mir das vorstelle, breche ich ab, so einfach ist das.

Arrangieren Sie die Wirklichkeit, um ein Bild so hinzubekommen, wie Sie es sich wünschen? - Das hängt von der Situation ab. Beim Bild der Frau mit dem Kind im Regen, das ich in Indien durch die beschlagenen Scheiben meines Autos aufgenommen habe, hätte ich gerne angehalten, um weitere Fotos zu machen. Ich steckte aber im Verkehr fest. Dass ich dieses Bild aufgenommen habe, war reiner Reflex. Die Geschichte hinter dem Foto ist ziemlich verrückt. An jenem Tag habe ich die Bilder nicht wie sonst am Abend angeschaut. Ich habe die Aufnahme erst drei Monate später entdeckt, als ich mich plötzlich wieder an die Bilder erinnerte. Bei Porträtaufnahmen zögere ich nicht, einzugreifen, zum Beispiel indem ich die Person bitte, mehr ins Licht zu stehen. Wenn es aber um Fotojournalismus geht, kann man nicht eingreifen, damit würde man die Realität verzerren, deren einziger Zeuge man ist. Als Künstler hingegen befindet man sich in einer eigenen Realität und hat das Recht, eine eigene Perspektive zu haben.

Was machen Sie lieber? Fühlen Sie sich eher als Künstler oder als Journalist? - Ich arbeite am liebsten als Fotojournalist. Mein Stil ist ein dokumentarischer. Ich orientiere mich an dem, was ich sehe. Es kommt aber auch vor, dass ich die Realität bis zu einem gewissen Mass interpretiere, die Welt mit meinen Augen darstelle und den Bildern eine Signatur verleihe. Daraus kann ein sehr schönes künstlerisches Foto entstehen. Es kommt immer auf die Situation an. Fotojournalismus gehorcht aber strengen Regeln, die mir sehr zusagen.

Was suchen Sie mit Ihren Fotos? - Unerwartetes. Kontrollierte Zufallsmomente, bei denen man unerwartet Interessantes entdeckt, nach dem man gar nicht gesucht hat.

Wie gefällt Ihnen die Schweiz? Sind Sie zum ersten Mal hier? - Nein, vor vier Jahren war ich für eine Ausstellung in Zürich und danach in St. Moritz. Fotografiert habe ich in der Schweiz aber noch nie. Es ist ein wunderschönes Land.

Was fällt Ihnen an der Schweiz besonders auf? - Alles ist organisiert, effizient und ordentlich.

Zu organisiert, zu effizient und zu ordentlich, um zu inspirieren? - Nein, Singapur ist ähnlich, und dort habe ich schon fotografiert. Es herrscht eine städtische Energie, wie in New York. Perfektion gibt es ohnehin nicht. Die Schweiz interessiert mich, weil sie sehr schön ist.