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Singapur im Umbruch

Das vergangene Jahr war für den Stadtstaat gleich von zwei Zäsuren gekennzeichnet. Der Tag, da Singapur aus dem malaysischen Staatsverband hinausgeworfen wurde, jährte sich zum fünfzigsten Mal, und am 23. März verstarb der Vater des modernen Singapur, Lee Kuan Yew, im biblischen Alter von 92 Jahren. Nun gilt es, sich für eine schwierige Zukunft zu rüsten.

Lee Kuan Yews Memoiren «The Singapore Story» sind, was Autobiografien von Politikern angeht, eine ungewöhnlich anregende Lektüre. Vor allem die Schilderung der Gründerjahre des unabhängigen Stadtstaats lässt einen erahnen, welch gewaltige Fortschritte binnen weniger als einem Menschenleben erreicht worden sind. Als die von Sir Stamford Raffles im frühen 19. Jahrhundert gegründete Hafenstadt 1965 unabhängig wurde, verlor sie auf einen Schlag ihr Hinterland. Kurz darauf kam der zweite Rückschlag, als Grossbritannien beim Rückzug von «East of Suez» seinen Flottenstützpunkt in Singapur aufhob und die Stadt den grössten Arbeitgeber verlor. Darüber hinaus wurde der junge Stadtstaat von ethnischen Unruhen heimgesucht, und zudem sorgten fünfte Kolonnen von Mao Zedongs Weltrevolution für Unrast.

Lee Kuan Yews Weitsicht

Wer heute Singapurs eindrückliche Skyline sieht und weiss, dass der Stadtstaat gemessen am kaufkraftbereinigten Pro-Kopf-Einkommen auf der Weltrangliste auf dem dritten Platz, noch weit vor der Schweiz, figuriert, kann sich kaum vorstellen, dass vor einem halben Jahrhundert Singapur eine heruntergekommene Drittweltstadt war. Es gibt berechtigte Kritik am autoritären Führungsstil Lee Kuan Yews, doch kann niemand seine Weitsicht bestreiten. Lee hatte richtig erkannt, dass es für das flächenmässig grob dem Kanton Solothurn entsprechende Territorium nur eine Zukunft geben konnte, sofern es seine einzige Ressource, die heute rund 5,4 Mio. umfassende Bevölkerung, optimal nutzte. Zwischen zwei viel grösseren Nachbarn eingeklemmt, hatte Singapur keine andere Option, als von der Lebensqualität über Verlässlichkeit und Effizienz bis zum sozialen Frieden besser zu sein als jeder andere Staat Südostasiens.

Was von der Gemeinschaft, die zu 74% chinesischstämmig ist, weitere 13% Malaien und 9% Inder zählt, erreicht worden ist, lässt sich sehen. 2015 rangierte Singapurs Changi Airport an der Weltspitze der besten Flughäfen. Hinter Schanghai ist gemessen an der Umschlagstonnage von Containern der Singapurer Hafen weltweit Nummer zwei. Singapur ist noch vor Hongkong Asiens bedeutendster Finanzplatz, und die National University of Singapore belegt weltweit den zwölften Rang unter den grossen Hochschulen. Dieser eindrückliche Erfolgsausweis war Singapur nicht in die Wiege mitgegeben worden, sondern musste in harter Arbeit und mit grosser Entschlossenheit erkämpft werden.

Ein Generationenwechsel bringt die Chance eines Neubeginns, verursacht aber auch Friktionen und Missverständnisse. Während die älteren Singapurer mit dem Tod von Lee Kuan Yew endgültig von der Gründerzeit Abschied nahmen, sahen die jüngeren Generationen weitgehend emotionslos das Ableben eines Übervaters, dessen Maximen und Ermahnungen sie in Schule und Universität bis zum Überdruss vermittelt bekommen hatten. Für die Älteren gingen mit Lee Kuan Yews Tod die guten Zeiten ein für alle Mal zu Ende. Viele beklagten offen, dass die Nachfolger Lees nicht seine Statur hätten.

Aus den unzähligen Nachrufen ragte eine Botschaft  heraus, diejenige des Vorsitzenden des Singapurer Staatsfonds GIC, Siong Guan Lim, der in jungen Jahren Lee Kuan Yew als erster Privatsekretär gedient hatte. Lim betonte, dass nicht Singapurs glitzernde Skyline oder der breite Wohlstand seiner Bevölkerung Lees Haupterbe seien. Viel wichtiger, aber auch schwieriger zu vermitteln seien die Werte, die schliesslich das Fundament für Singapurs Erfolgsstory bildeten. Abgesehen davon, dass in Singapur wie anderswo auch die Spätgeborenen die materiellen Errungenschaften ihrer Eltern- und Grosselterngenerationen für selbstverständlich hinnehmen, müssen die Ideale der Gründerzeit heute mit neuem Leben erfüllt werden. Die ausschliessliche Fokussierung auf den Wohlstand ist gefährlich, da, sollten einmal magerere Zeit anbrechen, dann leicht der Zusammenhalt der Gemeinschaft schwinden würde.

Es liegt in der Natur eines Stadtstaats ohne Rohstoffe und ohne einen grossen Binnenmarkt, dass er auf weltwirtschaftliche Entwicklungen sehr verletzlich reagiert. Singapur hat dies in der Asienkrise von 1997/98 und der globalen Finanzkrise von 2008/10 besonders stark zu spüren bekommen. Wie Singapore Airlines, so hat auch der Stadtstaat selbst jede Krise zum Anlass genommen, sein Geschäftsmodell zu überprüfen und sich neu zu erfinden. Dass er damit bisher erfolgreich gewesen ist, zeigt sich auch darin, dass Singapore Airlines, im Unterschied zur Swissair, die Stürme überstanden hat.

Bekannt ist, dass auch der Finanzplatz Singapur einen tiefgreifenden Strukturwandel durchmacht. In mancher Hinsicht ist er ähnlichem Druck ausgesetzt wie der Finanzplatz Schweiz. Weniger offenkundig ist die im Gang befindliche Aufwertung des Denkplatzes Singapur. Lee Kuan Yew hatte erkannt, dass, wenn die Bevölkerung die einzige Ressource ist, Bildung und Ausbildung einen besonders hohen Stellenwert haben müssen. Mit einem sehr grosszügigen Stipendienwesen hat der Staat dafür gesorgt, dass junge Singapurer in der grossen weiten Welt und an den besten Universitäten studieren können.

Im Laufe der Zeit stellte sich aber auch heraus, dass manche besonders gut qualifizierte Singapurer es vorziehen, nach abgeschlossenem Studium im Ausland zu bleiben. Offensichtlich wurden die Optionen, die sich in Singapur für ein Fortkommen boten, nicht als zufriedenstellend empfunden. Dies hat entscheidend mit der sogenannten Soft Power, mit den weichen kulturellen Standortfaktoren, zu tun. Die Aufbaugeneration hatte sich auf die Aufgabe konzentriert, die physische Infrastruktur auf den modernsten Standard zu bringen, den Leuten menschenwürdige Unterkünfte zu verschaffen und einen breiten materiellen Wohlstand zu gewährleisten. Für «Luxus» wie einen aufwendigen Kulturbetrieb oder globale Spitzeninstitutionen in Lehre und Forschung waren damals nur wenige Mittel verfügbar.

Im Verlaufe der vergangenen Jahre ist man sich dieser Lücken bewusst geworden. Dazu hat nicht nur der stetig gestiegene Wohlstand beigetragen, sondern auch die Erkenntnis, dass Hongkongs Kulturbetrieb Singapur in den vergangenen fünfzehn Jahren eindeutig überrundet hat. Die Stadt im Perlflussdelta brüstet sich damit, die asiatische Ausgabe von Art Basel abzuhalten; neue Kulturzentren und Museen sind geschaffen worden. In jüngster Zeit hat Singapur diese Herausforderung angenommen und vor allem im Forschungsbereich Hongkong überrundet. Prominente westliche Universitäten, darunter die ETH, sind in Singapur präsent.

Singapur ist eine weltoffene Stadt, und das produktive und friedliche Zusammenleben mehrerer ethnischer und religiöser Gemeinschaften beeindruckt. Hier ist Singapur allen anderen Staaten Südostasiens überlegen. Doch nichts darf als garantiert betrachtet werden. Soziale Unzufriedenheit kann rasch aufkommen, sei es, weil es mit der Wirtschaft harzt oder weil neue Einflüsse zu absorbieren sind. In jüngster Zeit beklagen viele Singapurer zunehmende Überfremdung, die vom rasant wachsenden Finanzplatz und vom Zustrom neureicher Festlandchinesen ausgeht. Die Einheimischen fühlen sich von den Fremden, die beinahe 40% der Gesamtbevölkerung ausmachen, bedrängt und klagen über rasch steigende Lebenskosten, v. a. für Immobilien. In mancher Hinsicht steht Singapur einmal mehr vor der Herausforderung, seine Identität und seinen sozialen Zusammenhalt veränderten Zeitumständen anzupassen.

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