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Der Ergründer der Psyche

Die Psychoanalyse gehört in eine Reihe mit Theorien wie derjenigen von Kopernikus oder von Charles Darwin – das sagte Sigmund Freud ohne falsche Bescheidenheit gleich höchstpersönlich, anno 1917 in einer Vorlesung. Wie die Ideen Kopernikus’ und Darwins seien die seinen eine «Kränkung der Menschheit». Damit hatte er recht. Freud drang, in gewissem Sinn wie Kopernikus und Darwin, auf Neuland vor – in die bis heute und wohl auf immer unbekannteste aller Gegenden: die menschliche Seele.

Und wie der Astronom und der Biologe revolutionierte der Mediziner das Bild des Menschen von sich selbst. Mit streng naturwissenschaftlichen Methoden kommt man dem Innenleben des Menschen nicht bei, empirische Ansätze versagen bald einmal. Freuds Seelenkarte, die er anhand seiner Erkundungen – etwa mithilfe der Traumdeutung – zeichnet, ist weniger ein überprüfbares Modell der Welt, wie die See- oder Landkarten der Entdecker, als ein Gedankengebäude, eine Interpretation, ein Versuch der Klärung und Erklärung. Und trotz ihrer Feinstofflichkeit haben diese Theorien die Welt verändert.

Der in Mähren, damals im Habsburgerreich, geborene Freud studierte in Wien Medizin, wandte sich bald der Methode der Hypnose zu, machte (Selbst-)Versuche mit Kokain und behandelte Hysteriker. 1896 sprach Freud erstmals von der Psychoanalyse. Seither ist der Mensch sozusagen nicht mehr Herr im eigenen Hause, denn: Freud gesellte dem Ich, das bloss zuständig ist für Rationalität und Realität, das Es bei – das Unbewusste.

Das ist der unberechenbare, verborgene Steuermann des Ich, der vor allem über die Libido einwirkt; es ist dieser «blinde Passagier» (wie es der Hamburger Anglist Dietrich Schwanitz auf den Punkt brachte), dieser lüsterne Untermieter, der etwa für Freud’sche Versprecher sorgt. Zudem haust in des Menschen postuliertem Ménage à trois auch noch das Über-Ich, der vom Ich idealisierte, das Ich sekundierende Kanon der gesellschaftlichen Wertvorstellungen.

Der Traumdeuter und Kindheitsausforscher Freud komplimentierte jahrzehntelang Patienten auf die berühmte Couch in seiner Wiener Praxis an der Berggasse 19 (heute als Museum der Öffentlichkeit zugänglich). Dr. Freud wurde zu Lebzeiten berühmt, er fand Schüler – manche, wie C. G. Jung, wurden später abtrünnig –, er fand Feinde, er fand Spötter; manchen war oder ist seine Lehre zu einseitig auf die Libido ausgerichtet, manche unterstellen der Psychoanalyse, sie schaffe selbst die Probleme, als deren Lösung sie sich verkaufe.

Der Wiener Kaffeehausliterat und Kulturhistoriker Egon Friedell etwa, ein Zeitgenosse Freuds, bezeichnete die Psychoanalyse als «Religion, die als Wissenschaft auftritt». Gleichviel, Freud ist heute Alltag; häufig, aber nicht immer passend verwendete Begriffe wie «Komplex», «Verdrängung», «Projektion» oder «Internalisierung» stammen aus Sigmund Freuds Feder.

1938 emigrierte Freud, ein atheistischer Jude, nach dem «Anschluss» Österreichs an Nazideutschland nach London, wo er ein Jahr später starb. Der starke Raucher hatte lange Jahre unter Gaumenkrebs gelitten und sich schliesslich eine Überdosis Morphin spritzen lassen.

Freud hielt übrigens den Marxismus für eine Illusion, angesichts des aggressiven Potenzials des Menschen (das sich denn gerade überall dort, wo der reale Sozialismus existierte, ganz besonders blutig austobte). Doch hinderte das die Theoretiker der sogenannten Frankfurter Schule – Fromm, Adorno, Horkheimer, Marcuse – mitnichten daran, eine Symbiose dieser beiden Lehren zu formen: Freuds Aufteilung der Psyche in Ich, Es und Über-Ich wandten sie an auf Marx’ Klassenschema von Bürgertum, Proletariat und Aristokratie. Dieser überaus wirkungsmächtige Mix beeinflusste die 1968er Bewegung stark. Deren Exponenten es nun allerdings längst ins Establishment, also in die Aristokratie, geschafft haben…