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Schottlands Ölinvestitionsblase von 1864/65

Schottische Ölfassbinder im 19. Jahrhundert bei der Arbeit.

Als Schottland vergangenen Herbst über seine Unabhängigkeit abstimmte, spielte Erdöl eine wichtige Rolle. Seit Geologen in den Sechzigerjahren vor der Küste grosse Öl- und Gasvorkommen entdeckten,

wurde die von Haus aus ärmliche Region im Nordosten Grossbritanniens zum Texas Europas. Hunderttausende gut bezahlter Arbeitsplätze, Milliardeninvestitionen und -gewinne spülte die technisch schwierige Förderung auf den Bohrinseln vor den Orkney- und Shettlandinseln in die Staatskasse. Jährlich wirft das Geschäft ein- bis zweistellige Milliardenerträge ab.

Nach fünfzig Jahren scheint der britische Ölboom seinen Höhepunkt überschritten zu haben. Günstige Konkurrenzprodukte aus den USA untergraben die Profitabilität der Nordseeexploration. Setzt sich diese Entwicklung fort, würde Schottland bereits zum zweiten Mal in seiner Geschichte aus dem Ölgeschäft gedrängt.

1. Am Anfang war das Licht

Noch lange bevor Öl zum Betrieb von Maschinen verwendet oder raffiniert als Benzin für Autos eingesetzt wird, stehen ganz andere tägliche Bedürfnisse im Vordergrund: eine einfache Art, Licht zu erzeugen. Ölleuchten gibt es schon so lange wie die menschliche Zivilisation. Als Öl werden zunächst Waltran oder Fischöle verwendet. Sogar Olivenöl dient, um Lampen zu speisen. Einer der Hauptnachteile dieser Rohstoffe: Die Leuchten müssen häufig gesäubert werden, damit sie überhaupt ausreichend leuchten.

Die Welt verändert sich, als der Schotte James Young in den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts ein Verfahren entwickelt, um Paraffin zur Verbesserung von Ölleuchten einzusetzen. Paraffin war zwar schon ein Jahrzehnt früher von einem schwäbischen Chemiker entdeckt worden, aber der Schotte erfindet den optimalen Raffinierungsprozess via Erhitzung in besonderen Retorten genannten horizontal gelagerten Öfen, um ein für Lampen geeignetes Leichtöl zu erhalten. Ihm gelingt damit ein technologischer Durchbruch.

2. Aufstieg an die Spitze

Young lässt sich das Verfahren 1850 patentieren und gründet zusammen mit seinen zwei Partnern Edward Binney und Edward Meldrum 20 km westlich von Edinburgh in den schottischen Lowlands ein eigenes Unternehmen: Bathgate Chemical Works.  Die Region verfügt über reiche Schieferölvorkommen, die die jungen Produzenten als Rohmaterial einsetzen.

Bathgate Chemical Works wird zur ersten Gesellschaft weltweit, die Mineralöl auf industrieller Basis herstellt. Die Produktion wird laufend ausgebaut und technisch optimiert. Ebenso viel Elan verwenden die Jungunternehmer darauf, Konkurrenz abzuwehren. Binney, der wegen seines Spezialwissens im Patentrecht mit an Bord geholt worden war, scheut keinen Gerichtsprozess, um Mitbewerber abzuwehren. Darüber hinaus schliesst das Unternehmen Lizenzverträge mit US-Petroleumfabrikanten, um zu verhindern, dass alternative Verfahren Fuss fassen.

Das ist nur die eine Seite der Verteidigungsstrategie. Die andere besteht darin, über die eigene Produktion grösstes Stillschweigen zu bewahren. Produziert wird so diskret wie möglich. Hohe Mauern schützen die Fabrik, Arbeiter werden zur Verschwiegenheit verpflichtet. Codewörter finden Anwendung. So besteht Young darauf, statt von Rohöl besser von Black Liquor zu sprechen. Die Zwischenprodukte werden als Green Liquor, Blue Liquor etc. bezeichnet. Und das lukrative Endprodukt heisst ausschliesslich Finished Liquor. Ob die Öffentlichkeit tatsächlich glaubt, hinter der Absperrung würde schottischer Hochprozentiger destilliert, ist zu bezweifeln.

Die Kombination aus Patentschutz und Marktabschottung hilft den Partnern aber, traumhafte Margen und Marktanteile viele Jahre aufrechtzuerhalten. Das Geschäft mit leichtem schottischen Mineralöl boomt: Öllampen weltweit bis hin zu den heimischen Leuchttürmen werden damit befeuert. Bathgate Chemical Works profitiert am meisten, operiert die Gesellschaft doch in einer monopolähnlichen Situation. Nur wenige weitere lokale Unternehmen etablieren sich. 1860 zählt die Branche sechs Anbieter, neben Young u. a. Clydesdale Chemical Company und George Miller & Co. of Glasgow.

3. Euphorie dank Patentende

Als 1861 in den USA der Bürgerkrieg ausbricht, schiesst der amerikanische Petroleumbedarf von 240 000 auf 633 000 (1866) Fass in die Höhe. US-Leichtölexporte, Schottlands grösste Konkurrenz, fallen aus. Die schottischen Produzenten springen ein und füllen die entstandene Lücke.

Gleichzeitig verbessert sich die Möglichkeit, neu in den schottischen Lowlands zu investieren und Schieferöl abzubauen, denn 1864 läuft Youngs Patent aus. Allein in jenem Jahr siedeln sich 38 neue Unternehmer in der Region an. 1865 sind es weitere 11 und 1866 noch einmal 17. Sie alle investieren in mehrere Retorten, was die Förderkapazität noch schneller wachsen lässt, als die Zahl der Firmengründungen suggeriert. In dem kleinen Bezirk Broxburn beispielsweise befinden sich 1865 650 neue Retorten im Bau oder werden in Betrieb genommen, mit einer Kapazität von 10 000 Fass Rohöl pro Tag. Die Schätzungen der Investitionssumme belaufen sich auf 150 000 £. Die Wachstumsaussichten scheinen grenzenlos zu sein, da der britische Lampenölkonsum in den Jahren 1863 bis 1865 beträchtlich anzieht. Kapital spielt keine Rolle. Financiers stehen bereit, sich an dem Boom zu beteiligen und spendieren grosszügig die Mittel.

Bereits 1865 ist in der Fachpresse von einem Ölfieber die Rede, das Schottland erfasst habe. Die Aussicht auf rasche Gewinne zieht nicht nur Leute vom Fach an, sondern auch Jungunternehmer und Abenteurer, die wenig oder gar nichts vom Ölgeschäft verstehen. Arbeitskräfte werden aus der Armee abgeworben. Spekulanten steigen ein. Die Sorgfaltspflichten bei der Bewilligung neuer Investitionsprojekte wird häufig verletzt. Es kommt nicht selten vor, dass neue Förderanlagen, die für Jahrzehnte geplant sind, bereits nach sechs Monaten ihre Produktion einstellen müssen, weil die erworbenen Schieferölparzellen überraschend schnell erschöpft sind.

4. Kollaps: Pech im Unglück

Das Ölfieber dauert knapp zwei Jahre. Auf die Euphorie folgt lehrbuchmässig die finanzielle Not. Der Investitionsboom hat 1864/65 so viele neue Firmen geboren, dass die Kosten für Maschinen und Personal sich kräftig verteuern. Fachkräfte sind kaum noch zu bekommen, falls doch, dann nur zu exorbitanten Löhnen. Während die Kosten explodieren, drückt die Produktionsausweitung die Absatzpreise nach unten. Es kommt so viel Lampenöl auf den Markt, dass die Nachfrage erst einmal übertroffen wird.

Und wie es in solchen Situation häufig passiert, haben die Glücklosen zusätzlich Pech: 1866/67 wird der Weltmarkt von einem starken Ölpreisrückgang erfasst. Die Notierungen fallen von 6.60 $ auf 2.40 $ pro Fass. Und als ob das nicht genügte, überschwemmen US-Exporte den Weltmarkt und Britannien. Der Grund: Günstigere Lampen kommen immer mehr in Mode. Sie verlangen vorzugsweise leichtes Öl, auf das Amerikas Anbieter sich besser spezialisiert haben als die Lowland-Produzenten.

Grossbritannien wird 1866 auch noch von einer Bankenkrise heimgesucht. Sie löste einen Zinsanstieg aus. Er machte vielen Financiers des Ölbooms, wie dem Konsortium Peto und Betts, sowie zahlreichen unterkapitalisierten Ölgesellschaften im Norden des Landes endgültig den Garaus.

5. Der lange Abschied

Ein eigens eingerichteter Ausschuss im Parlament versucht 1867 zu retten, was noch zu retten ist. Ausländische Konkurrenten sollten mit einem britischen Petroleum Act abgewehrt werden. Die Norm bleibt ohne Wirkung. Ist der technologische Vorsprung erst einmal verloren, nützen auch künstliche Barrieren nicht. Schottlands Ölbarone verpassten es vor lauter Expansionsdrang, konkurrenzfähig zu bleiben.

In den folgenden Jahrzehnten wird weiter Schieferöl gefördert. Das rechnet sich dank steuerlicher Erleichterungen. Als London Anfang des 20. Jahrhunderts  auch sie streicht, verschwindet die Branche vollständig. Heute erinnert nur noch ein Museum vor Ort an Schottlands glücklose erste Ölbonanza.