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«Resilient» statt allein «nachhaltig»

Hauptsache nachhaltig. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt, ja sogar Wissenschaft wurden in den vergangenen Dekaden mit Vehemenz auf das Ziel der Nachhaltigkeit getrimmt. Eine von der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland geleitete Weltkommission für Umwelt und Entwicklung hatte 1987 ein Verhalten eingefordert, das künftigen Generationen nicht schlechtere Chancen für ein selbstbestimmtes gutes Leben eröffnen dürfe als heutzutage. Seither besteht moralischer Konsens in Öffentlichkeit und Medien, dass bei allem gegenwärtigen Tun und Handeln stets die dauerhaften und damit langfristigen Folgen für die Bedürfnisse der Kindeskinder mit zu beachten sind.

Es ist fraglos richtig, mit den Interessen künftiger Generationen umsichtig und weise umzugehen. Ebenso ist es zweifelsfrei vernünftig, heute so zu handeln, dass es den Kindeskindern besser und nicht schlechter gehen wird als heute. Dennoch ist zu hinterfragen, ob «Nachhaltigkeit» auch im 21. Jahrhundert das richtige Paradigma sein wird, um Erwartungen und Ansprüchen der Zukunft gerecht zu werden.

Die «Nachhaltigkeitsdoktrin» war eine Spätgeburt des Industriezeitalters, geprägt eher von Stabilität und Bewahrung als von Dynamik und Veränderung. Sie geht von Endlichkeit, Kapazitätsengpässen und Schutz des Bestehenden aus. Weit geringer ist das Vertrauen in die Unendlichkeit des Wissens und die Innovationskraft des Menschen, Grenzen des Wachstums immer wieder von Neuem zu sprengen und auszuweiten.

Handlungsspielraum offenhalten

Das Zeitalter der Digitalisierung wird alles ändern, was für die Industriegesellschaft charakteristisch war. Roboter werden dem Menschen die Mühsal der Arbeit mehr und mehr abnehmen. Künstliche Intelligenz lässt das menschliche Hirn noch leistungsfähiger werden. Die virtuelle Realität schafft neue Sphären der Wirklichkeit. Die digitale Zukunft wird so anders als die industrielle Vergangenheit sein, dass wir heutzutage kaum in der Lage sind zu erahnen, wie die Interessen künftiger Generationen tatsächlich aussehen werden, die es nun bereits in der Gegenwart zu schützen gilt.

Was aus heutiger Sicht als erhaltenswert bewertet wird, kann sich rasch als falsch erweisen. In so einem Fall aber werden mit einer «Nachhaltigkeitsdoktrin» die Handlungsspielräume künftiger Generationen nicht bewahrt, sondern beschränkt. Was in gutem Glauben als «nachhaltig» verfolgt wird, kann dann leicht einen Herdentrieb in eine völlig falsche Richtung verursachen.

Disruptive Prozesse provozieren das «Nachhaltigkeitsprinzip» zusätzlich. Der Datentransfer macht zunehmend den Warenhandel überflüssig (wie bei Streamingdiensten, die Bild- und Tonträger verdrängen). Digitale Plattformen treten an die Stelle herkömmlicher Anbieter (wie Amazon im Einzelhandel, Uber im Taxigeschäft oder Airbnb bei Übernachtungen). Der 3-D-Drucker vor Ort ersetzt mit dezentral massgeschneiderten Lösungen das zentral in Fernost gefertigte und über Tausende Kilometer gelieferte Massenprodukt (wie bei Sportschuhen, Ersatzteilen, aber auch künstlichen Hüftgelenken oder Herzschrittmachern). Soziale Netzwerke ermöglichen neue Formen von Kommunikation und Kontakten.

So verändern sich Alltagswirklichkeit, Arbeitswelten, Geschäftsmodelle, Kundenbeziehungen und das Zusammenleben in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik fundamental. Komplexität und Intensität der Veränderungen sind so immens, dass Erfahrungen der Vergangenheit kaum mehr als Kompass für den Weg in die Zukunft taugen. Wenn wenig so bleibt, wie es bis anhin war, ist aber unsicher, wie sich heutiges Tun auf die Interessen der Kindeskinder auswirkt. Dramatischer noch: Was momentan als nachhaltiges Verhalten erscheint, kann im Zeitalter disruptiver Entwicklungen zum kollektiven Irrweg werden und in den Abgrund führen.

Es ist nicht wirklich verwunderlich, dass in den vergangenen Jahren neben der «Nachhaltigkeit» ein anderer Begriff Eingang in das Standardvokabular der Wirtschaftspolitik gefunden hat. «Resilienz» heisst das neue Zauberwort. Es beschreibt die Fähigkeit eines Systems, sich zweckmässig, rasch und effektiv an Veränderungen anzupassen. Privates Verhalten und staatliche Massnahmen sollen so wirken, dass Volkswirtschaften heute noch unbekannte Herausforderungen, Störungen und Schocks nicht nur bewältigen, sondern nutzen – zu mehr Chancen für ein besseres Leben.

Gerade angesichts der vielen Unbekannten, der Unsicherheit und Unbestimmtheit, die mit der digitalen Transformation einhergehen, strebt «resiliente» Wirtschaftspolitik weniger danach, Bekanntes und Bestehendes «nachhaltig» zu bewahren. Sie will verändern. Ziel ist es, die stete Funktions- und Anpassungsfähigkeit von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik an neue Zeiten sicherzustellen.

So sind Bildungssysteme darauf auszurichten, Menschen stets wieder von Neuem und ein immer längeres Leben lang zu ermächtigen, mit Veränderungen mitzuhalten. Noch gibt es in der Bildung eine massive asymmetrische Schieflage mit einer nahezu ausschliesslichen Konzentration auf die Jugend. «Resilienz» verlangt, private wie staatliche Bildungsbudgets von der Jugend ins fortgeschrittene Alter umzuschichten. Dabei geht es nicht nur um die Finanzierung direkter Kosten – wie Teilnahme- oder Studiengebühren oder Kosten für Erwachsenenbildung. Ebenso bedeutsam, und für viele wichtiger, sind die indirekten Kosten, besonders die Zeitkosten und die Löcher, die sich im Haushaltseinkommen öffnen, wenn Monate oder Jahre aus eigener Arbeit nichts verdient werden kann, weil man sich weiterbildet. Deshalb bedarf es neuer staatlicher Unterstützung, die nicht dem Schutz des Bestehenden vor Veränderung, sondern der Förderung der Anpassungsfähigkeit an Veränderungen dient.

In der Arbeitsmarktpolitik sollte es weniger darum gehen, bestehende Beschäftigungsverhältnisse zu schützen, sondern die Beschäftigungsfähigkeit zu fördern – also die Fähigkeit, stets und immer wieder mit dem Strukturwandel mitzuhalten und neuen Anforderungen gerecht zu werden. Nicht mehr der Input, sondern der Output ist, was zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Auftraggeber und Auftragnehmer zu vereinbaren ist. Arbeitszeit und Arbeitsort – wann und wo was erledigt wird – sollten für Beschäftigte frei wählbar sein. Die fixe Wochenarbeitszeit sollte genauso durch eine Jahresarbeitszeit ersetzt werden wie fixe Ruhestandsgrenzen durch Lebensarbeitszeitmodelle. Individuell gestaltbare Erwerbskonten könnten eine ökonomisch effektive, gesellschaftlich breit akzeptierte Lösung sein, um für Bildung, Qualifikation, Familie und Ruhestand mehr Flexibilität und Autonomie zu ermöglichen.

Der Weg, nicht das Ziel

«Nachhaltigkeit» hat die ganz lange Dimension im Fokus, deren Konturen aber künftig immer unschärfer werden. «Resilienz» dagegen ist Weg, nicht Ziel. Sie masst sich nicht an zu wissen, was längerfristig sein wird oder sein soll. Vielmehr will sie ermöglichen und ermächtigen, dass einzelne Menschen, aber auch Gesellschaften insgesamt die noch weitgehend unbestimmten und unbekannten Chancen der Digitalisierung nutzen können, um daraus das Beste für sich, ihre Angehörigen und ihre Kindeskinder zu machen.

Selbstredend entbindet «Resilienz» eine Gesellschaft nicht davon, immer wieder normativ zu debattieren und politisch zu diskutieren, ob jetzt eher Ökonomie oder Ökologie, Wachstum oder Verteilung, kurz- oder langfristige Ziele verfolgt werden sollen. Es bleibt einer Gesellschaft unbenommen, am «Nachhaltigkeitsparadigma» festzuhalten, aber «Resilienz» als Mittel zum Zweck einzusetzen.