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Reise ans nördlichste Ende Europas

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Im Nordosten: Die rund 120 Meter hohen Kliffs von Ketubjörg, mit ihrem Wasserfall über eisigschwarzem Wasser, gehören zu den berauschendsten Naturspektakeln Islands. Gäbe es ein Ende der Welt, so sähe es aus.
Die dramatische Intensität der vulkanischen Region Gjàstikki befällt die Sinne unmittelbar. Wie hier die Godafoss, die «Wasserfälle der Götter».
Der Krater des erloschenen Vulkans Hverfjall

Es herrscht stürmisches Wetter, als der Reisende an Bord eines Propellerflugzeugs auf dem kleinen Flughafen von Akureyri landet. Er ist schon etwas beunruhigt, denn der Norden ist eine eher wilde Gegend, die sich nur den unternehmenslustigeren, kühneren Besuchern erschliesst.

Das nördliche Dach der Welt muss man sich verdienen. Akureyri ist die Hauptstadt des Nordens und könnte aus einem Roman stammen. Bunt gestrichene Holzhäuser blicken auf den Fjord Eyjafjördur.

Im Hafen, einem der wichtigsten im nördlichen Landesteil, dümpeln Freizeitboote, Schiffkutter und Trawler. In den Strassen herrscht kosmopolitisches Gedränge wie oft in Hafenstädten.

Noch müde von der langen Reise, geniesst man im berühmten Backpackers ein einheimisches Bier. Hier treffen sich Abenteurer aus aller Welt, hier werden oft etwas romantisierte Reisegeschichten erzählt, Neuankömmlingen gute Ratschläge erteilt.

«Öffne nie die Autotür mit dem Wind im Rücken», empfiehlt etwa ein ausgelassener Bartträger. Im Noa versöhnt uns der herzliche Kellner mit den eisigen Sturmböen und serviert uns den Tagesfisch und ein Glas Wein.

Man fühlt sich wohl und beginnt sich zu entspannen. Island ist wohl beeindruckend, nicht aber beängstigend. Im Norden hat jedes Element seinen ausgleichenden Gegenpart.

Schneesturm in den Strassen von Akureyri? Man flüchtet ins warme Café. Einsamkeit macht sich bemerkbar? Am Strassenrand macht man garantiert eine unvergessliche Begegnung. Die Elemente spielen verrückt? Wie durch ein Wunder klärt sich der Himmel auf, macht einigen heissen Sonnenstrahlen Platz, die einen in den Hochsommer katapultieren.

Müde, durchfroren und erschöpft? Die Übernachtung im erstklassigen Landleit regeneriert und bringt die Kräfte zurück.

Der Mensch und der Sturm

Der Norden von Island ist traumhaft, schwindelerregend. Die dramatische Intensität der Vulkangegend von Gjàstykki bewegt Seele und Geist. Das in wenigen Tagen entstandene Magmagebirge. Die schwefligen Geysire, die wärmende Dämpfe ausstossen.

Der «Wasserfall der Götter» Godafoss, in welchen heidnische Götterbilder geworfen wurden. Der Myvatn-See, immens, spiegelglatt. Der schwarze Vulkan Hverfjall, der eine überwältigende, menschenleere Ebene überragt. Die mehr oder weniger gut befahrbaren Strassen zwischen erkalteter Lava.

Es ist die Gegend fantastischer Legenden, bevölkert von Monstern, Kobolden und Elfen. Die Luft ist gesättigt mit Mysterien. Die Lava ist nicht lebensvernichtend, sondern katalysiert, macht den Boden fruchtbar und kostbar, die Erde ist nicht tot, sondern voller Geschichten.

Mitten in einer hügeligen, dunklen Wüste grüne Felder eines Landwirtschaftsbetriebs. Eine gewaltige Farbpalette sorgt für Kontraste. Der Norden von Island ist auch die Geschichte des langen Kampfs des Menschen gegen die Elemente.

Die Region Gjàstykki im Herzen einer geduldig und mit grossem Einsatz gezähmten Erde. «Man respektiert die Natur… Man weiss, wozu sie fähig ist», erklärt der Inhaber einer Tankstelle.

Kultur und Natur verbinden sich, bekämpfen sich und verleihen dem Land seinen einzigartigen Charakter. Seit Jahrhunderten leben und bewirtschaften die Menschen ein Land, das nicht bezwingbar und eigentlich zutiefst unwirtlich ist.

Diese Dualität zeigt sich, wenn man Richtung Siglufjördur fährt, entlang des Meeres, der weiss bedeckten Gipfel, der Bauernhöfe. Während langer Zeit Zentrum der Heringfischerei, Schauplatz der Serie Trapped (des Regisseurs Baltasar Kormá- kur) und des Bestsellers Snjór (Ragnar Jó- nasson), wirkt Siglufjördur wie die letzte zivilisierte Festung vor dem Nordpol.

In der Bar des Siglo Hotel mit Blick auf den Ozean geniesst man den wärmenden Tee und bestaunt die stürmischen Elemente. Nach der erholsamen Nacht fährt man auf der anderen Seite der Halbinsel von Tröllaskagi eine steile Strasse hinunter und steht endlich am Ende der Welt, am äussersten Punkt Europas mit den Klippen von Ketubjörg und dem gewaltigen Wasserfall.

Gegenüber dem arktischen Ozean löst sich der Geist, wird breit und offen. Man atmet eine Luft, durchdrungen von Erinnerungen und Geschichten. Das Alleinsein in diesem atemberaubenden Ort ist ein unendliches Privileg, vor allem, wenn man an die Touristenmassen denkt.

Rund fünftausend Menschen reisen täglich in das 300‘000 Einwohner zählende Land. Wie lange noch werden die Klippen von Ketubjörg, der Myvatn-See oder die Gjàstykki-Vulkane vom Massentourismus verschont bleiben?

Die Reise an diese Orte ist echter Luxus, der nichts mit Reichtum, sondern mit Geisteshaltung und Zielstrebigkeit zu tun hat. Es ist schwierig, diesen Norden zu erreichen, und es ist nur gerecht, dass jene, die sich hierher wagen, für ihren Mut belohnt werden.

Nach dem Ende der Welt

Wie verlässt man das Ende der Welt? Wie zieht man sich von den Klippen von Ketubjörg zurück, wie verabschiedet man sich vom entfesselten Ozean? Wie knüpft man an die Zivilisation wieder an?

Am besten ist es, die Rückkehr langsam anzugehen und gemächlich auf der Route 1 in den Süden zu fahren. Man freut sich an der grünen Region der Umgebung von Stadur, der Hügellandschaft in der Nähe von Reykholt, wo man im Hotel Húsafell die Delikatessen der raffinierten Küche geniesst.

Wo man über die Landstrasse zur kürzlich fürs Publikum freigegebenen Lavagrotte von Vidgelmir fährt. Es braucht Zeit und mehrere Etappen, um wieder fit für die Zivilisation zu werden, um sanft zu landen, um leichten Herzens die Hauptstadt zu besuchen, das hübsche Künstlerquartier um Laugavegur, wo man im Prikid, der «ältesten Bar Islands» (sehr Rock’n’roll) aufs Leben anstösst, wo man das signierte Werk eines zeitgenössischen Fotografen erwirbt (Galerie Fotografi, auf Skolavördustigur), wo man im Kaffibarinn, einem gastfreundlichen, holzverkleideten, populären und eleganten Lokal, ein wohlverdientes Bad in der Menge nimmt.

Selbstverständlich kann nichts den fantastischen Norden, die schwindelerregenden Klippen, die Fjords ersetzen. Das überwältigende Spektakel der gewaltigen, unbezwingbaren Natur der Küsten.

Aber Reykjavik ist ein angenehm temperierter Kontrapunkt zu den unendlichen Emotionen, die der Norden auslöst. Und mit Wehmut blickt man vom Rooftop des Hotels Canopy im Stadtzentrum ein letztes Mal auf die Bucht von Faxaflói, sagt auf Wiedersehen zu einem Land, das glücklicherweise noch nicht alle seine Geheimnisse preisgegeben, aber alle seine Versprechen gehalten hat.