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«Ratingagenturen geben zu viel Spielraum»

Vor zehn Jahren war die Finanzkrise schon in Gang. Seither sind die Schulden nicht gesunken, sondern global weiter gestiegen, auf Rekordstände in allen Kategorien, bei Haushalten, Staaten, Unternehmen. Daniel Pfister, Chef des Bonitätsinstituts Independent Credit View (I-CV), stellt sich die Frage, ob sich eine neue Finanzkrise anbahnt.

Herr Pfister, Ratingagenturen spielten bei der Entstehung der Finanzkrise 2007/08 eine verhängnisvolle Rolle. Haben Sie die richtigen Lehren gezogen? - Wir stellen besorgniserregende Entwicklungen fest. Nach unserer Meinung geben die Ratingagenturen den Unternehmen zum Teil zu viel Spielraum. Das zeigt sich gerade bei Unternehmen, die schulden­finanzierte Übernahmen oder Aktienrückkäufe vornehmen. Es gibt Fälle, da liegt das effektiv vergebene Rating sechs Notches über der Einstufung, die die Verschuldung eigentlich impliziert.

Können Sie ein Beispiel geben? - Der Bierhersteller AB InBev ist so ein Fall. Seine Nettoschulden sind mit der Übernahme von SAB Miller auf das 5-Fache des Ebitda gestiegen. Rein auf das Finanzprofil bezogen, ergäbe das eine Bonitätsnote im BB-Bereich, der spekulative Anlagen kennzeichnet. Dennoch hat er von zwei grossen Ratingagenturen ein A-Rating. Zum Teil gewähren die Bonitätsprüfer einen grossen Vorschuss und übernehmen einfach die Annahmen, die die Unternehmen zum Schuldenabbau treffen, und die oft sehr optimistisch sind.

Wie hat sich global die Lage bei den Unternehmensschulden und Ratings verändert? - Speziell bei Anlagen im Triple-B-Bereich, die gerade noch Investment Grade resp. Anlagequalität aufweisen und deshalb heikel sind, ist ein gefährlicher Trend zu beobachten. Einerseits ist der Sektor um zwei Drittel in zehn Jahren gewachsen. Andererseits haben sich die Kreditkennzahlen dort stark verschlechtert. Bei mit Triple-B benoteten Unternehmen ist das durchschnittliche Verhältnis von Nettoschulden zu Ebitda in zehn Jahren von 1,7 auf 2,9 gestiegen. Das erhöht die Gefahr von erdrutschartigen Ratingsenkungen, wenn sich das Wirtschaftsumfeld ändert.

In welchen Ländern ist die Unternehmensverschuldung am bedrohlichsten? - Massiv angestiegen ist sie in China. Dort haben viele staatsnahe Unternehmen hohe Schulden. Man vertraut auf einen impliziten Support des Staates. So wird ChemChina, der Käuferin von Syngenta, trotz Nettoschulden vom 7-Fachen des Ebitda ein BBB-Rating zugestanden. Wäre sie auf sich gestellt, würde sie viel tiefer eingestuft.

Ratingagenturen geben weiterhin einen Bonus für implizite Staatsunterstützung? - Absolut, wir sehen bei Banken Unterschiede bis zu fünf Notches zwischen den effektiven Ratings der Agenturen und jenen, die auf Stand-alone-Basis, bei völliger Eigenständigkeit, gerechtfertigt wären.

Gilt das auch für Schweizer Grossbanken? - Moody’s gibt dem Stammhaus von Credit Suisse ein Rating von A1 für vorrangige, unbesicherte Schulden. Auf Stand-alone-Basis läge die Einstufung vier Notches tiefer.

Wie stehen Schweizer Unternehmen punkto Verschuldung generell da? - Abgesehen von chinesischen zeigen US-Unternehmen eine besonders grosse Verschuldungszunahme. In der Schweiz ist die Entwicklung nicht so ausgeprägt. Doch sie läuft in die gleiche Richtung, auch was die Ratings betrifft. Eine Spezifität des hiesigen Bondmarktes ist es, dass Banken und heimische Agenturen Ratings auch für kleinere Unternehmen vergeben. Wir sehen Fälle, wo die Ratings auf Investment Grade im Triple-B-Bereich gehalten werden, obwohl es unserer Meinung nach wegen der Kreditqualität nicht gerechtfertigt ist.

Zum Beispiel? - Dem Techunternehmen Kudelski wird ein Triple-B-Rating zugesprochen. Wir meinen, dass seine Anleihen wegen der schwachen operativen Entwicklung und der hohen Unternehmensverschuldung nicht einmal ein BB-Rating verdienen. Andere Beispiele sind die Messegesellschaft MCH Group, der Stromkonzern Alpiq oder die Nahrungsmittelgruppe Orior.

Sind andererseits die Anleihengläubiger zu unkritisch geworden? - Weil die Finanzkrise einige Jahre zurückliegt, ist das Risikobewusstsein der  Investoren gesunken. Zudem haben sie Druck, im Tiefzinsumfeld noch Rendite zu erzielen. Dadurch hat sich der Mix in den Anlageportfolios stark verändert, wie wir bei institutionellen Investoren feststellen. Der Versicherer Allianz hat den Anteil von Triple-B-Bonds in zehn Jahren von 5 auf 20% ausgeweitet. Zugleich ist der Anleihenanteil mit A-Ratings von 80 auf 60% gesunken. Das heisst, der Spielraum für Fehlentscheidungen im Anlageprozess ist kleiner geworden.

Für das Tiefzinsumfeld tragen die Notenbanken eine Hauptverantwortung. - Die Tiefzinsen haben die Preise verteuert und verzerrt über alle Anlageklassen hinweg, von Aktien, Bonds, Immobilien bis zu Kunst. Je mehr aber etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, umso heftiger wird das Pendel zurückschlagen.

Betreiben die Notenbanker letztlich Zyklusverlängerung? - Ja, man sieht es an den Zombieunternehmen, definiert als Unternehmen, die mindestens zehn Jahre alt sind und seit drei Jahren ihre Zinskosten nicht mehr aus dem operativen Ergebnis decken können. Sie können im Tiefzinsumfeld irgendwie noch überleben.  Sie werden mitgeschleppt von teils ebenfalls schwachen Finanzinstituten, die kapitalmässig nicht in der Lage sind, notleidende Kredite abzuschreiben.

Wie entwickelt sich der Anteil an Zombies? - Laut einer Studie der BIZ, der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, hat sich in Europa der Anteil an Zombieunternehmen seit Beginn der 1990er-Jahre von 1 auf über 10% ausgeweitet. In Südeuropa liegt der Anteil heute auf 15 bis 20%. Trübt sich die Konjunktur ein, wird es solchen Unternehmen erst recht nicht mehr gelingen, sich gesund aufzustellen.

Droht irgendwann also ein Dominoeffekt, eine neue Schulden- und Finanzkrise? - Wir stehen in der Spätphase des Kreditzyklus, die Schulden wachsen stärker als die Unternehmensgewinne. Ist die Spätphase durchschritten, folgt meist eine Rezession.

Und damit verbunden ein Anstieg der Ausfallraten bei Schulden und Anleihen? - Heute verzeichnen die Ratingagenturen Ausfallraten bei Anleihen von etwa 2,5%. Wir haben schon Zeiten mit Ausfallraten von über 10% gesehen. Damit verbunden wäre auch ein massiver Anstieg der Spreads, also der Kreditrisikoaufschläge. Am härtesten getroffen würden davon die Anleihen im Triple-B-Bereich, wo unserer Meinung nach heute zu wenig zwischen besserer und schlechterer Qualität differenziert wird. Schwächen sich die Unternehmensgewinne ab, ist eine Welle von Ratingsenkungen zu erwarten. Dann würden viele Triple-B-Anleihen in den Non-Investment-Grade-Bereich fallen.

Weshalb institutionelle Anleger sie nach Ihren Anlagerichtlinien verkaufen müssten. - Genau, dann droht ein Ausverkauf, weil die offiziellen Ratings leider fest in den Richtlinien eingebettet sind. Noch haben die Investoren die Chance, Anleihen schwächerer Qualität zu guten Preisen zu verkaufen. Wir raten, sich auf höhere Qualität zu verlagern, damit man gerüstet ist, wenn alle gleichzeitig zur Tür rennen.

Wenn sich der Anleger nicht auf die Ratings verlassen kann, auf was soll er schauen? - Wir achten stark darauf, wie sich die Verschuldungskennzahlen und die freien Cashflows verändern. Und wir analysieren, ob ein Unternehmen die Möglichkeit und Bereitschaft hat, seine Schulden im Notfall sofort zurückzuführen durch eine Dividendenreduktion, eine Aussetzung von Aktienrückkäufen oder Verkäufe.

Was zeichnet solide Geschäftsmodelle aus? - Eine führende Marktposition in den Top fünf, hohe Eintrittsbarrieren in den Märkten sowie eine gewisse Preismacht dank starker Marken und guter Produkte. All das hilft, bei sich eintrübender Konjunktur die Margen zu verteidigen.

Welche Schweizer Unternehmen erfüllen diese Kriterien in besonderem Mass? - Zu den Unternehmen mit starkem Geschäfts- und Finanzprofil zählen Novartis, Lindt & Sprüngli, der Aufzughersteller Schindler oder der Sanitärtechniker Geberit. Ein verletzliches Geschäfts- sowie riskantes Finanzprofil haben etwa Kudelski, MCH Group, Alpiq, Orior oder die Klinik- und Hotelgruppe Aevis Victoria.

Eine Frage der Unabhängigkeit

Die Ratingagenturen tragen eine Mitschuld an der Finanzkrise von 2007/08, weil sie zuvor zu gute Bonitätsnoten für strukturierte Kreditprodukte vergeben hatten. Sie nahmen zudem in der Bonitätseinstufung von Grossbanken kaum eine Differenzierung zwischen den Starken und den Schwachen vor – in der Folge wurde gern auf die Interessenskonflikte der Ratingagenturen verwiesen, die für ihre Arbeit von den Emittenten der Wertpapiere respektive den Unternehmen bezahlt werden.

Dem Schweizer Bonitätsinstitut Independent Credit View (I-CV) brachte die Finanzkrise demgegenüber viel Zulauf von verunsicherten Investoren, die Rat suchten. Es bezeichnet sich als unabhängig, weil es sich zu 100% von den Investoren bezahlen lässt. Gegründet wurde I-CV im Jahr 2003, u.a. von Daniel Pfister, der auch die Geschäftsführung innehat. Das Institut hat keine offizielle Anerkennung von der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht Finma, was es ihm erlaubt, für seine institutionellen Kunden aus der Schweiz und Deutschland konkrete Anlageempfehlungen auszusprechen.

Zurzeit beschäftigt I-CV 18 Personen, davon 15 Analysten. Manche von ihnen waren früher für grosse Ratingagenturen tätig. Auch die drei geschäftsführenden Partner arbeiten weiterhin als Analysten, «weil es uns im Blut liegt», erklärt Pfister.

Das Institut I-CV vergibt auch Bonitätsnoten, allerdings nur zuhanden ihrer Kundschaft; ihre Ratings orientieren sich dabei an der Skala von Standard & Poor’s, der weltweit grössten Ratingagentur . Trotz der harschen Kritik im Zuge der Finanzkrise dominieren die Agenturen aus den USA das weltweite Ratinggeschäft weiterhin. Das sind die 1941 entstandene Standard & Poor’s, die an der New Yorker Börse kotierte Moody’s sowie die deutlich kleinere Fitch Ratings.

Daniel Pfister sieht Anzeichen dafür, dass sich die Geschichte zu wiederholen droht. Gerade im Triple-B-Bereich, der noch Anlagequalität (Investment Grade) verspricht und knapp oberhalb der spekulativen Anlagen (Non-Investment Grade) liegt, würden die Ratingagenturen wieder zu wenig differenzieren zwischen den Emittenten.