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Plevens Pleiteplan

René Pleven wäre einer der vielen völlig vergessenen französischen Nachkriegspremiers – hätte er nicht im Herbst 1950 einen bemerkenswerten Vorschlag unterbreitet: die Einrichtung einer supranationalen westeuropäischen Armee. Der Pleven-Plan sah, nur fünf Jahre nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, auch den Einbezug künftiger deutscher Truppeneinheiten vor – zu diesem Zeitpunkt war die junge Bundesrepublik noch demilitarisiert. Bundeskanzler Konrad Adenauer befürwortete das Vor­haben, doch 1954 scheiterte es dort, wo es begonnen hatte: in Paris, in der französischen Nationalversammlung.

Der Zeitrahmen, 1950 bis 1954, ist nicht zufällig. Im Juni 1950 überfiel Nordkorea den südlichen Teil der Halbinsel auf Geheiss des Despoten Kim Il-sung (des Grossvaters des nuklear gerüsteten Kim Jong-un). Der Kalte Krieg wurde heiss. Die Befürchtung lag auf der Hand, dass sich Ähnliches auch in Europa anbahnen könnte, besonders auf dem Gebiet des – wie Korea – durch die zwei Blöcke geteilten Deutschlands. Im März 1953 starb ­Sowjet-Machthaber Stalin, der Koreakrieg endete im Juli darauf an der heutigen ­Demarkationslinie.

Zu Zeiten des Koreakriegs

Damit sank die Temperatur in der Ost-West-Auseinandersetzung spürbar, mithin auch die Dringlichkeit, das teils noch in Trümmern liegende Westeuropa militärisch leistungsfähiger und weniger von den USA abhängig zu machen. Als Pleven, 1950 bis 1952 zwei Mal Frankreichs Ministerpräsident, sein Konzept vorgelegt hatte, sah es noch anders aus. Die Bedrohung schien akut, und die USA benötigten Mann und Material in Asien, wären also um Entlastung in Westeuropa froh gewesen. Deshalb begrüsste Washington die Ideen aus Paris und sprach sich Anfang 1951 für den Wiederaufbau deutscher Streitkräfte aus.

Die Franzosen standen einer Bewaffnung des eben erst besiegten Deutschlands naturgemäss reservierter gegenüber als die Amerikaner, doch diese hatten in der 1949 gegründeten Nato damals wie heute das Sagen. So versuchte Paris, sich zugleich ins Unvermeidliche zu schicken – dass Westdeutschland seinen Beitrag zur eigenen und zu Westeuropas Verteidigung würde leisten müssen – und dabei seine eigenen Interessen zu wahren.

Das bedeutete: die neuen deutschen Bataillone zu befehligen. Pleven schlug vor, einen (west-)europäischen Verteidigungsminister einzusetzen, vorzugsweise einen Franzosen. Bestehende nationale Streitkräfte (in Frankreich, Italien, Benelux) sollten nur zum Teil in die europäische Armee eingegliedert werden, die künftigen deutschen Truppen jedoch ganz. Die Regierung in Bonn hätte also, wäre der Plan in die Tat umgesetzt worden, keine Verbände unter ihrem direkten  Kommando gehabt. Ferner hätte es zunächst keine deutschen See- und Luftstreitkräfte geben dürfen. Der Pleven-Plan schloss zudem die Mitgliedschaft Westdeutschlands in der Nato aus.

Dass Frankreich seine eigenen Interessen mit denen europäischer Partnerstaaten vermengt oder gar verwechselt, ist eine Konstante in der Nachkriegsgeschichte. Die gerade eben entstandene Bundesrepublik, wegen der frischen Erinnerungen an das Nazireich erst halbwegs salonfähig, suchte unter dem Rheinländer Adenauer entschieden die Westbindung. Er misstraute der Sowjetunion und überging ein vages Angebot Stalins nach deutscher Wiedervereinigung; Moskau wollte auf diesem Weg die Westintegration des viel bedeutenderen Teils Deutschlands verhindern. Die Zustimmung zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft weitgehend nach französischer Façon wollte er sich jedoch nicht gratis abhandeln lassen: Dafür wünschte Bonn das Ende des Besatzungsstatuts, Souveränität.

Nach heiklen Verhandlungen unterzeichneten im Mai 1952 die Aussenminister Frankreichs, Italiens, der drei Benelux-staaten und Westdeutschlands das Abkommen über die Errichtung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft – also die sechs Staaten, die 1957 die Römischen Verträge unterzeichneten, worauf die heutige Europäische Union beruht.

Doch Ende August 1954 – der äussere Druck hatte, wie dargelegt, nachgelassen – lehnte die französische Nationalversammlung die Ratifizierung ab. Manchen missfiel die (obwohl nicht gleichberechtigte) Teilnahme der Bundesrepublik, andere fürchteten um den Verlust nationaler Souveränität, weitere hatten Sympathien für den Ostblock, einige sahen die Gefahr, dass die Einrichtung einer europäischen Armee die Amerikaner dazu veranlassen könnten, aus Europa abzuziehen.

Es kam also anders. 1955 trat die Bundesrepublik der Nato bei und begann mit dem Aufbau der Bundeswehr. Frankreich fuhr bald schon einen Sonderzug: Präsident Charles de Gaulle, den Amerikanern von Herzen abgeneigt und stets beseelt von einer «certaine idée de la France», löste Frankreichs Streitkräfte 1966 aus dem integrierten Nato-Kommando, was erst Präsident Nicolas Sarkozy 2009 rückgängig machte. Die Geschichte wiederholt sich nicht, bietet jedoch ab und zu ein Déjà-vu. Dieser Tage wandte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in einem öffentlichen Aufruf an die «Bür­gerinnen und Bürger Europas». Unter ­anderem schlägt Macron eine gemeinsame Verteidigungspolitik vor; gemeinsam heisst wohl: die ganze EU, plus, wie ­Macron ausdrücklich vermerkt, das Vereinigte Königreich.

Macron wärmt Idee auf

Was Macron vorschwebt: ein Vertrag über Verteidigung und Sicherheit, im Einklang mit der Nato. Mindestens so herausfordernd wie in den 1950er-Jahren. Einige Länder sind in der EU, doch nicht in der Nato, manche in der Nato, doch nicht in der EU, darunter wohl bald das militärisch wichtige Vereinigte Königreich.

Auch jetzt ist das Timing kein Zufall. Russland wird im Westen als zunehmend bedrohlich wahrgenommen und die militärische Patronage der USA als zunehmend unzuverlässig. Deutschland ist zwar vereinigt, Korea jedoch nicht, und der Konflikt auf der Halbinsel bleibt aktuell, wie der Machtpoker zwischen Diktator Kim und US-Präsident Trump zeigt; es ­mischen, wie schon damals, China und, mit geringerem Effekt, Russland mit.

Ob dem noch sehr schwammigen Anliegen Macrons, das er schon bei früherer Gelegenheit skizziert hatte, das gleiche Schicksal beschieden sein wird wie einst dem Pleven-Plan? Gut möglich bis wahrscheinlich. Das Thema wurde in den ­vergangenen Jahrzehnten immer wieder diskutiert, das Comeback auf Macrons Betreiben hin besagt nichts. Bruno Alomar, ein führender französischer Publizist in Fragen der Sicherheitspolitik, sagt dazu: Macrons Idee ist zwar gut, aber zwischen ihr und der Wirklichkeit unterschiedlicher Interessen der Partnerstaaten klafft eine grosse Lücke. Alles schon dagewesen.