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Nomadentum Zeit und Raum – der neue Luxus

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Die «Printfarm» der ECAL an der Mailänder Designund Möbelmesse.
Reisen und Luxushotellerie generierten 2015 die Summe von 399 Milliarden Euro.
Die «Printfarm» der ECAL an der Mailänder Designund Möbelmesse.

Die Fachzeitschrift «Nature Climate Change» publizierte im Mai eine Studie über die Auswirkungen des Tourismus auf das Klima. In vier Jahren (2009 bis 2013) hat sich sein Anteil an den Treibhausgas-Emissionen um 16% auf 8% erhöht. Mit vier Milliarden Reisenden im Jahr 2017 repräsentiert heute der Flugverkehr 20% der vom Tourismus verursachten Emissionen und liegt damit noch vor der Hotellerie.

Sanfte Mobilität, neue städtebauliche Projekte mit autonomen Fahrzeugen, Flugtaxis – die Revolution der Mobilität steht erst am Anfang. Anlässlich des letzten «Uber Elevate Summit» in Los Angeles wurde der Prototyp eines elektrischen Flugzeugs, einer Mischung von Helikopter und Drohne, vorgestellt, das 2023 kommerzialisiert werden soll. «Unser Ziel ist es, die weltweite Mobilität radikal zu verändern», erklärte Nikhil Goel, verantwortlich für Fluggeräte bei Uber.

Diese und mit ihr verbundene andere Revolutionen im Bereich der grünen Energie sind die Antwort auf die Frage «Wie werden wir uns fortbewegen?», während es auf die Frage nach dem «Warum» diverse Erklärungen gibt. In seinem Werk «Du Nomadisme» schreibt der französische Soziologe Michel Maffesoli, dass «Nomadentum sich als das konstante Suchen nach dem Eldorado definiert, das in einer zu Ende gehenden Welt eine besondere Bedeutung erhält». Die von der globalisierten Wirtschaft erzwungene Mobilität, Unzufriedenheit, gesellschaftliche Abschottung sind die wichtigsten Antriebe des Nomadentums.

Wird dieses immer noch gleich definiert? Der französische Soziologe Jean Viard meint: «Die moderne oder post-sesshafte Mobilitätsgesellschaft entstand in den 1960er-Jahren. Mit der längeren Lebenserwartung wurde die Idee, jederzeit neu anzufangen, den Beruf zu wechseln, umzuziehen, realisierbar. Die Instrumente dieser Mobilität – Handy, Internet, Hochgeschwindigkeitszüge, Flugzeug – haben diesen «Hors Sol»-Trend zementiert.

Die Bewegung, die in den letzten 25 Jahren dominierte, geht aber langsam ihrem Ende entgegen. Wir sind uns der Kleinheit der Erde bewusst geworden. Während Christoph Kolumbus noch die Tür zur Welt öffnete, hat Juri Gagarin diese wieder geschlossen und uns gezeigt, dass wir die Erde nie verlassen können. Weil wir uns als Gefangene des Raums fühlten, haben wir uns der Zeit zugewandt. Heute tun wir alles, um noch schneller zu sein, kümmern uns um drei Dinge gleichzeitig, wollen unser Leben verlängern. Was wir nicht an Raum gewinnen, kompensieren wir mit der Zeit.

«Das Nomadentum definiert sich als das konstante Suchen nach dem Eldorado, das in einer zu Ende gehenden Welt eine besondere Bedeutung erhält»

Postmodernes Nomadentum: Die Herausforderung für die Luxusindustrie

Sämtliche Luxussektoren haben begriffen, dass es unumgänglich ist, die physischen und immateriellen Wünsche nach Nomadentum der Kunden zu begleiten und zu erfüllen. Die Kollektionen «Croisières», ursprünglich in den 1920er-Jahren für die reichen Kunden kreiert, die den Winter in südlichen Gefilden verbrachten, sind heute ein Must für jedes Couture-Haus.

Sie sind nicht nur ein wichtiger Umsatzfaktor zwischen den Hauptsaisons, sondern auch eine Ermunterung zum Auf- und Ausbruch. Und für die Couturiers zudem die Möglichkeit, ihre Kollektionen ausserhalb der in den Metropolen stattfindenden Fashion Weeks zu zeigen und ihre begüterten Kunden nach Rio, Kuba oder in die kalifornische Wüste zu laden, um so für Unterhaltung zu sorgen und deren Lust auf Nomadentum zu befriedigen.

Der Normalverbraucher hat andere Möglichkeiten, sich seine Wünsche nach dem Anderswo zu erfüllen. Gepäckhersteller werden zu Reisespezialisten und entführen ihre Kunden an neue Destinationen oder geben Reiseführer heraus, so gesehen bei Louis Vuitton. Uhrenfirmen arbeiten mit Fluggesellschaften zusammen, etwa Breitling mit Swiss.

Das Haus Hermès stellt in seinem Atelier für Massgeschneidertes Reiseutensilien oder Transportmittel für die Reichsten her. Der Direktor für den Masterlehrgang in Design «Luxe et Artisanat» der Westschweizer Hochschule für Kunst und Design ECAL: «Nomadentum ist seit jeher ein Traum der Menschen. Diese brauchen die Möglichkeit, ausbrechen zu können, das Abenteuer, den Tapetenwechsel.

Für das Design stellt sich daher eine zentrale Frage, nämlich wie und weshalb werden die Menschen in Zukunft reisen? Wir wurden von einer Luxusmarke gebeten, über dieses Thema nachzudenken. Wird man mit einem oder mehreren Gepäckstücken unterwegs sein? Wird eines genügen, da wir vor Ort alles Notwendige im 3-D-Druck produzieren können? An der Mailänder Design- und Möbelmesse haben wir die Hälfte unserer Ausstellungsfläche mit einer «Druckerfarm» ausgestattet und eine Reihe von 3-D-Printern aufgestellt.

Besucher, die die Druckdatei heruntergeladen hatten, erhielten die Möglichkeit, die Ausstellungsstücke selbst und sehr günstig herzustellen.» Dieser Kontakt mit dem Objekt, das direkt aus dem Gerät kommt, ist eine Möglichkeit, noch freier zu agieren und dem Nomadentum noch einfacher zu frönen. Zwar kein üblicher oder handwerklich produzierter Luxus, aber doch ein Luxus, und ein pragmatischer dazu.

Aber auch hier bleibt das Streben nach Stil und Exklusivität. Sportlabels, die in diesem Bereich eine Spitzenstellung einnehmen, sind bereits im Luxusmarkt sehr aktiv. Wer heute geschäftlich unterwegs ist, ist Stress und anderen Zwängen ausgesetzt und braucht vor allem auch eine intakte Organisation. Nicolas Lemoigne erklärt weiter: «Es ist entscheidend, seine eigene Blase und Komfortzone zu kreieren.

Darüber denken wir intensiv nach. Letztendlich geht es darum, möglichst viel Ballast abzuwerfen, sich zu entlasten. Die Menschen haben unglaublich viel im Kopf, der Geist ist verstopft und überlastet. Das perfekte Objekt wird es uns in Zukunft ermöglichen, dank dem Streben nach Schlichtheit und Klarheit den Geist zu befreien, zu entlasten.»

Die Herausforderung: Der Besitz von Raum und Zeit

Schlichtheit ist das Thema, dessen sich die Luxusindustrie ebenfalls bemächtigt hat. Maffesoli nennt dies «die Ästhetik der Wüste», die ultimative Schmucklosigkeit, der Gral der heutigen Zeit, die Flucht aus der beengenden Gesellschaft als heftige Reaktion auf den Materialismus.

Dazu der Soziologe Jean Viard: «Heute dreht die Elite der Konsumgesellschaft den Rücken und strebt nach Schlichtheit. Beispiel: Die Wohnungen von Durchschnittsmenschen überquellen von Gegenständen, in Luxusapartments dagegen herrscht Leere – in unseren überfüllten Städten ein Synonym für Reichtum. Je mehr Leere man besitzt, desto reicher ist man. Ein 500 m2 grosses Apartment in Manhattan mit einem Bett mitten im Raum ist Luxus pur. Aber dahinter sind natürlich viele Menschen, die für den Besitzer arbeiten. Diesbezüglich ändert sich also nichts. Die heutige Elite bewegt sich in der Dematerialisierung. Und wie seit eh ist sie es, die den Weg weist.»

Dematerialisierung des Luxus ist das, was die Branche als Erlebnisluxus (Weine, Gastronomie, Luxushotellerie, Reisen nach Mass) bezeichnet. Ein stetig wachsender Bereich, der gemäss Boston Consulting Group im Jahr 2015 einen geschätzten Jahresumsatz von 522 Milliarden Euro generierte. Reise-Designer, die Aufenthalte in unzugängliche Gebiete veranstalten und dem Kunden in kürzester Zeit möglichst viele Erlebnisse bieten, sind im Trend.

Nicolas Ambrosetti, Chef der Genfer Agentur Vickyh Voyage meint: «Die Kunden träumen heute von Abenteuer und wollen gleichzeitig Luxuskomfort, sie suchen nach Freiräumen, aber in Rekordzeit. Mehr als Geld ist heute Zeit gefragt. Für diesen Luxus braucht man jedoch nicht unbedingt ans Ende der Welt zu reisen. Eine begleitete Motorrad-Tour auf dem Balkan oder im nahen Gebirge kann durchaus erfüllend sein. Heute spricht man wieder mehr von Reisen und weniger von Ferien. Luxus heisst ausbrechen.»

Ein Nomadentum in Verbindung mit der Suche nach dem Sinn, nicht unbedingt dem gesellschaftlichen, sondern viel mehr nach dem individuellen. Die Suche nach dem «Innern». Detox-Kuren, Rückzug in die Wüste, Destinationen in der «Leere» haben Hochkonjunktur.

Fazit von Félicitas Morhart, Professorin an der HEC Lausanne: «Wir leben heute in einer Epoche der Dematerialisierung des Luxus. Luxus bedeutet frei sein, keine Zwänge, keine Ankettung an Objekte, an das Büro, kein geregeltes Leben. Ich behaupte sogar, dass Luxus heute darin besteht, unproduktiv zu sein, frei für Entdeckungen, frei von der gesellschaftlichen Stellung.»

Zentraler Punkt dieses Trends ist die totale Kontrolle über sein Leben, ohne dass das Materielle die Kontrolle darüber ergreift. Die berühmte Aussage, dass Objekte, die man besitzt, einen besitzen, wird heute von der Aristokratie der Elite geteilt.

Dies ist auch der Grund, weshalb die Luxusindustrie sich vermehrt an der immateriellen Erfahrung orientiert. Der Gipfel des Luxus besteht heute darin, sein Geld ins Immaterielle, in die «Leere» zu investieren. In Raum und Zeit.

 «Es ist entscheidend, seine eigene Blase und Komfortzone zu kreieren.»