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Die unerwarteten Folgen der Digitalisierung

Der Onlinehandel schafft Arbeitsplätze in der Logistikbranche: Ein Kurier liefert Pakete aus. Foto: Alessandro Della Bella (Keystone)

Wie sich die Digitalisierung auf die Arbeitswelt auswirken wird, weiss zurzeit niemand so richtig. Entsprechend gross ist die Bandbreite an Szenarien, die entwickelt werden. Ein Widerspruch fällt dabei besonders auf. Auf der einen Seite wird prognostiziert, dass vor allem die wenig qualifizierten Arbeitskräfte unter Druck kommen werden. Auf der anderen Seite wird gewarnt vor dem Verschwinden vom Anwaltsberuf, dem Ärztestand oder den Lehrerinnen und Lehrern.

Es kann gut sein, dass beide Szenarien eintreffen werden. Aber es ist sicher falsch, sich nur auf die disruptiven Vorgänge zu konzentrieren, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt. Das 19. Jahrhundert ist das disruptivste Zeitalter der Wirtschaftsgeschichte, aber der Modernisierungsprozess war alles andere als einförmig.

Nehmen wir die Schweiz als Beispiel. Der Baumwollsektor wurde mit atemberaubender Geschwindigkeit mechanisiert. Viele Arbeitskräfte wurden freigesetzt, weil die Hand- und Heimarbeit nicht mehr rentabel war. Nur die wenigsten fanden einen Arbeitsplatz in den neuen Fabriken.

Jobverlagerung statt Jobvernichtung

Wohin gingen diese Arbeitskräfte? Liessen sie sich umschulen, um in anderen Branchen eine Stelle zu finden?

Nein, eben gerade nicht. Sie konnten ihrer angestammten Arbeit treu bleiben, weil die Mechanisierung nur schrittweise den Baumwollsektor erfasste. Sie beschränkte sich nämlich während der ersten Jahrzehnte auf die Baumwollspinnerei. Dies erhöhte automatisch die Nachfrage nach Arbeitskräften in den Webereien. Also fand eine grosse Verlagerung von der Handspinnerei in die Handweberei statt.

Als im Zürcher Oberland auch die Handweberei durch die Mechanisierung verdrängt zu werden drohte, rebellierten die Handweber und verbrannten die Fabrik Corrodi & Pfister in Uster im Jahr 1832 .

Bild: Schweizerische Nationalbibliothek

Dies erwies sich aber bald als Episode. Die Produktion von mechanischen Webstühlen wurde weiter vorangetrieben, neue Fabriken entstanden an anderen Schweizer Standorten. Ein Grund für den nachlassenden Widerstand war, dass die Handweber ein neues Auskommen in der Seidenindustrie fanden, die im Kanton Zürich ab den 1830er-Jahren einen grossen Aufschwung nahm und viel später mechanisiert wurde. In der Ostschweiz wurde die Stickerei zum grossen Auffangbecken für arbeitslose Handweber.

Die folgende Tabelle zeigt die Beschäftigungsverhältnisse innerhalb der schweizerischen Textilindustrie im 19. Jahrhundert (Quelle: Historische Statistik der Schweiz, Tabelle F.1 ). Im Jahr 1821 dominiert die Baumwollindustrie, 1890 ist sie nur ein Standbein neben der Seidenindustrie und der Stickerei. Die letzteren beiden Branchen befinden sich zwar Ende des 19. Jahrhunderts im Prozess der Mechanisierung, aber bieten immer noch viele Arbeitsplätze in der Heimindustrie. Erwerbstätige in Tausend Baumwollindustrie Seide und Stickerei Woll- Übrige Total Total Spinnerei Kunstseide industrie Textilind. 1821 60 8 20 2 1 17 100 1837/40 70 11 35 5 2 18 130 1850 80 12 50 10 2 18 160 1860 85 15 55 15 2 23 180 1865/67 90 15 60 20 2 28 200 1870/72 85 15 65 25 2 23 200 1875 80 15 70 30 3 18 200 1880/82 75 15 65 35 3 17 195 1885 65 15 63 40 4 14 185 1890 50 15 60 45 4 11 170

Die Mechanisierung der einen Branche führte also zu einer erhöhten Nachfrage nach traditionellen Arbeitsplätzen in den benachbarten Branchen. Auf den ersten Blick wirkt das paradox, in Wirklichkeit konnte es gar nicht anders sein, weil die Mechanisierung nie gleichzeitig in allen Branchen voranschritt.

Ähnliches lässt sich heute beobachten. So hat zum Beispiel der Aufschwung des Onlinehandels zu einem Boom der traditionellen Paketpost geführt. Der Lastwagenverkehr hat deswegen zugenommen, nicht abgenommen. Vielleicht fahren die Lastwagen dereinst ohne Fahrer herum. Aber bis es soweit ist, wird die Nachfrage nach Lastwagenfahrern stark zunehmen, wenn die Digitalisierung des Handels weiter voranschreitet.