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Nigeria - wo Aufstieg und Fall sich treffen

In keinem anderen Land Afrikas klaffen Anspruch und Realität derart weit auseinander wie in Nigeria, dem mit rund 175 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Staat des Kontinents. Mit Vorliebe greifen seine Politiker zu Superlativen, um die vermeintlichen Erfolge des Landes seit der Unabhängigkeit vor über fünfzig Jahren in den buntesten Farben zu malen. Erst vor vier Wochen feierte die Regierung die Meldung, dass Nigeria durch eine Neuberechnung seines Sozialprodukts plötzlich zur stärksten Wirtschaftsmacht in Afrika aufgestiegen sei. Dass die Zahlen geschönt waren und keinerlei Bedeutung für die mehr als hundert Millionen Nigerianer haben, die von weniger als zwei Dollar am Tag und damit unterhalb der Armutsgrenze leben, blieb unerwähnt.

Unerwähnt und unbemerkt  blieb lange Zeit auch, dass Nigeria seit längerem dabei ist, Somalia als gewalttätigstes Land des Kontinents abzulösen. Rund 2000 Menschen sind in dem westafrikanischen Ölstaat seit Jahresbeginn der von der Terrorsekte Boko Haram verübten Gewalt zum Opfer gefallen. Erst vergangene Woche wurde wieder ein Dorf im Nordosten von den Islamisten dem Erdboden gleichgemacht; dabei wurden 375 Menschen ermordet. Doch erst die Entführung von fast 300 Schulmädchen aus dem Internat von Chibok und die völlige Gleichgültigkeit von Armee und Regierung bei der Suche nach ihnen hat die Aufmerksamkeit der Welt auf Nigeria gelenkt.

Profitiert die Armee von den Entführungen?

Die Entführung ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die vor fünf Jahren begonnen und die dazu geführt hat, dass der muslimische Norden zumindest teilweise längst der Kontrolle der Zentralregierung in Abuja entglitten ist. In den beiden vergangenen Jahren hat Boko Haram den Aktionsradius immer weiter nach Zentralnigeria ausgedehnt. Daran haben weder der in den nördlichen Bundesstaaten verhängte Ausnahmezustand noch die jüngste Militäroffensive gegen die Islamisten irgendetwas ändern können. Im Gegenteil: die Lage ist ständig eskaliert.

Dabei fliesst inzwischen fast ein Fünftel des nigerianischen Staatshaushaltes in den Sicherheitssektor. Langjährige Beobachter wie der Afrika-Experte Robert Kappel vermuten deshalb eine massive Selbstbereicherung von Generälen, Geschäftsleuten und Gouverneuren an den eigentlich für die Terrorbekämpfung bestimmten Geldern: Während die Militärs nach aussen hin  Boko Haram bekämpfen, sollen sie die Terrorbande insgeheim zu immer neuer Gewalt ermuntern, damit noch mehr Geld in den für sie so lukrativen Sicherheitssektor fliesst. Die Rede ist zudem von bezahlten Überfällen und geheimen Waffenlieferungen. Anders ist auch nicht zu erklären, wie die afrikanischen Taliban in den Besitz modernsten Kriegsgeräts kommen können. Sollte dies stimmen, wäre es nur ein weiteres Indiz dafür, wie tief verwurzelt die Korruption in der Gesellschaft ist – und wie verrottet die inneren Strukturen des Staats sind.

Volkszorn auf die korrupten Eliten

Präsident Goodluck Jonathan hat die die Entführung der Schülerinnen als Wendepunkt im Kampf gegen den Terror bezeichnet, weil das Ausland nun das Ausmass des Terrors zur Kenntnis genommen habe und aktiv helfe. Angeblich fliegen inzwischen erste US-Aufklärungsflugzeuge über das Land. Doch Jonathan könnte sich täuschen: Drastischer als je zuvor hat das Geiseldrama der Bevölkerung nämlich vor allem die Unfähigkeit, Apathie und Gier der nigerianischen Elite vor Augen geführt – und landesweit heftige Proteste ausgelöst. Viele Menschen fühlen sich vom Regime in Abuja und der heruntergekommenen Armee im Stich gelassen.

Immer wieder haben einige wenige Bürger wie der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka in den vergangenen Jahren vor einem Scheitern der Republik gewarnt – und sind dafür von den Gesundbetern heftig angefeindet worden. Dabei ist Nigeria in der Tat ein Musterbeispiel dafür, wie nahe in Afrika der Zerfall eines Staats und dessen vermeintlicher Aufschwung zusammenliegen. Diese tiefe Kluft zu schliessen, ist die eigentliche Aufgabe des Kontinents. Allerdings ist derzeit nicht zu erkennen, wie ein Land wie Nigeria – ohne echte staatliche Institutionen und ohne industrielle Vielfalt jenseits der Ölbranche, aber mit einer massiv steigenden Bevölkerung – in absehbarer Zeit zu einer halbwegs stabilen Demokratie reifen kann.

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