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Nach der Krise ist vor der Krise

Im September 2008 betrug die Notenbankgeldmenge in der Schweiz 45 Mrd. Fr. Zehn Jahre später, im Sommer 2018, erreicht sie 552 Mrd. Fr. Das ist das Zwölffache von 2008.

Im September 2008 lag das jährliche Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz bei rund 600 Mrd. Fr. Zehn Jahre später beträgt es knapp 680 Mrd. Fr. Das sind 13% mehr als 2008.

Nach allen makroökonomischen Lehrbüchern müsste eine Situation, in der die Geldmenge um den Faktor zwölf steigt, die Gütermenge aber nur 13%, zu einer gewaltigen Inflation führen. Generationen von Studierenden wurde das Grundgesetz des Monetarismus eingebläut, wonach (bei gleichbleibender Umlaufgeschwindigkeit des Geldes) ein schnelleres Wachstum der Geldmenge als der Gütermenge zu entsprechend steigenden Preisen führen müsse, weil Güter im Vergleich zu Geld knapper und damit teurer würden.

Wo bleibt die Inflation?

Tatsache ist jedoch, dass der Konsumentenpreisindex in der Schweiz heute niedriger liegt als vor zehn Jahren. Das Leben ist nicht teurer, sondern billiger geworden. Es gab und gibt keine Inflation, trotz einer Geldmenge, die um Dimensionen stärker zugenommen hat als die Gütermenge. Ganz offenbar gilt ein zentrales Grundgesetz der Makroökonomik seit der Finanzmarktkrise nicht mehr. Eine stärker als die Gütermenge wachsende Geldmenge ist höchstens noch eine notwendige, nicht aber mehr eine hinreichende Bedingung für Inflation.

Es gibt Monetaristen, die nicht die Notenbankgeldmenge (also Banknotenumlauf plus Giroguthaben inländischer Banken bei der Schweizerischen Nationalbank SNB), sondern andere Geldmengenaggregate wie die Geldmenge M1 (also Bargeldumlauf plus Sichteinlagen plus Einlagen auf Transaktionskonti) oder M2 (entspricht M1 plus Spareinlagen) oder M3 (entspricht M2 plus Termineinlagen) als relevant für Inflationsentwicklungen ansehen. Aber seit Ausbruch der Finanzmarktkrise im September 2008 bis heute ist auch M1 um den Faktor 2,5, M2 um den Faktor 2,3 und M3 um den Faktor 1,6 gestiegen und damit wesentlich stärker als das BIP.

Andere versuchen den Monetarismus zu retten, indem sie darauf verweisen, dass ganz offenbar der Rückgang der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes das Geldmengenwachstum aufgefangen und kompensiert habe. Das muss rein mathematisch so sein und ist deshalb richtig, aber eben auch tautologisch und für die Praxis nicht weiterführend. Natürlich hat die Verlangsamung des Geldumlaufs etwas mit der Zurückhaltung der Banken in der Kreditvergabe – auch als Folge strikterer Regulierungen und höherer Eigenkapitalforderungen – oder einer fehlenden Nachfrage von Unternehmen und Haushalten nach Krediten zu tun. Die Einsichten aber hätten immer schon gelten müssen, und umso unverständlicher, dass der Monetarismus über Jahrzehnte diese Argumente kaltstellte, indem er einfach die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes als konstant annahm. Was waren denn nun nach der Finanzmarktkrise die Ursachen für den Rückgang der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, wieso hat man sie nicht vorher thematisiert, analysiert, prognostiziert, sondern nur im Nachhinein als «Residuum» berechnet, aber nicht einmal gemessen?

Es gelten neue Gesetzmässigkeiten

Natürlich kann in einer noch in der Ferne liegenden späteren Zeit die Inflation anspringen. Aber dieser Zeithorizont wäre dann um Längen weiter von seiner Ursache entfernt als alles, was in der monetaristischen Theorie für die zeitliche Distanz zwischen expansiver Geldpolitik und steigenden Preisen zu finden ist. Schlüssige Erklärungen, wieso eine Dekade vorerst nichts und erst danach etwas passieren sollte, sind bis anhin nirgendwo erkennbar.

Ganz offensichtlich verlieren in Zeiten der Globalisierung und der Digitalisierung alte ökonomische Weisheiten ihre Gültigkeit. Wenn nicht mehr die Volks-, sondern die Weltwirtschaft das Mass aller Dinge ist und Wertschöpfung nicht mehr am Boden, sondern in virtuellen Wolken stattfindet, gelten neue Gesetzmässigkeiten. Wenn Datentransaktionen den Warenhandel erst ergänzen und danach verdrängen, bedarf es neuer Inflationsmodelle. Die aber sind noch nicht einmal ansatzweise erkennbar.

Aber auch andere wirtschaftswissenschaftliche Glaubenssätze sind mit der Finanzmarktkrise brutal zerstört worden. Intellektuelle Glasperlenspiele haben sich für die Realität als völlig nutzlos erwiesen. Über Jahrzehnte dominierte in der Ökonomik die Überzeugung, dass auf Finanzmärkten Effizienz die Regel und Marktversagen die Ausnahme sei. Die Deregulierung der Finanzmärkte zur Jahrhundertwende gründete auf eben dieser Effizienzmarkthypothese: Börsenkurse würden stets alle verfügbaren Informationen rational und richtig spiegeln. Neue Informationen führten zu einer sofortigen Anpassung.

Finanzmärkte abgekoppelt von Realwirtschaft

Die Finanzmarktkrise hat die Effizienzmarkthypothese als theoretische Spielerei ohne empirischen Gehalt entlarvt. Erwartungen über die Erwartungen aller anderen Akteure haben das Verhalten auf Finanzmärkten vorangetrieben. Die Folge davon war eine immanente Neigung zu Herdenverhalten und selbsterfüllenden Prophezeiungen: Erwarten die Marktakteure einen steigenden Preis, lockt dies Spekulanten an, die auf steigende Preise wetten. Dadurch steigt der Preis tatsächlich. Die anfänglichen Erwartungen werden scheinbar gerechtfertigt. Das wiederum provoziert neue Spekulanten zum Mitspielen. Wenn alle Akteure an das falsche Modell glauben, wird es scheinbar somit zunächst einmal «wahr». In der Realität jedoch ist es eine Reise nach Jerusalem, die dann abrupt zu Ende ist, wenn einzelne Investoren Kasse machen, andere das Vertrauen in weitere Preissteigerungen verlieren und Panikverkäufe die Blase platzen lassen.

Die Finanzmarktkrise hat aufgedeckt, wie stark Eigeninteresse und Egoismus von Bankmanagern, Börsenhändlern, Ratingagenturen und Finanzinstituten zu gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen geführt haben. Dazu kommt, dass das rasende Tempo der Finanzmärkte nicht mehr ansatzweise synchron zur vergleichsweise beschaulichen Geschwindigkeit der Veränderungen in der realen Wirtschaft läuft. Vielmehr beschleunigen sie Probleme und machen aus an sich kleinen, einfach lösbaren Anpassungserfordernissen grosse und schwer zu bewältigende Krisensituationen.

Algorithmen des Hochfrequenzhandels kümmern sich nicht einen Deut um die Realität. Alles, was sie interessiert, sind die Börsenkurse, die sie eine Nanosekunde zuvor selbst errechnet haben. Losgelöst von allen makroökonomischen Fundamentaldaten treiben somit Spekulanten die Güter-, die Arbeits- und die Kapitalmärkte wie einen Spielball vor sich her. Statt Schmieröl der realen Wirtschaft zu sein und dafür zu sorgen, dass Markttransaktionen reibungslos verlaufen, werden die Finanzmärkte zum Brandbeschleuniger und entfachen makroökonomische Brennpunkte zu weltwirtschaftlichen Flächenbränden.

Wenig bis nichts gelernt

Nicht nur William White, der frühere Chefvolkswirt der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, ist der Meinung, dass Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswissenschaften in den vergangenen zehn Jahren wenig bis nichts aus der Lehman-Pleite gelernt haben und ein noch grösserer Crash als im September 2018 droht. Keine der Analysen zur Finanzmarktkrise und zu ihren Folgen in der aktuellen Septemberausgabe der Fachzeitschrift «Wirtschaftsdienst» ist der Meinung, dass die Situation heute stabiler oder krisenfester sei als vor zehn Jahren. Alle sehen gewaltige Defizite in Theorie und Praxis, wenn es darum geht, die disruptive Tragweite der Finanzmarktkrise gebührend zu würdigen. Noch immer nutzen Ökonomen viel zu oft veraltete Ideologien, um neue Realitäten verstehen und erklären zu wollen. Noch immer bedrohen und erschweren Eigendynamik, Eigeninteressen und falsche Überzeugungen ein beidseits effektives Zusammenspiel von Finanzmärkten und Realwirtschaft. Die ökonomische Zeitenwende hat kaum einen wissenschaftlichen Geisteswandel herbeigeführt.

Offenbar gibt es aus den Ereignissen des 15. September 2008 somit nur eine Schlussfolgerung zu ziehen. Nämlich, dass man aus Krisen lediglich lernen kann, dass man nichts lernen will. Aber vielleicht ist es seit der Finanzmarktkrise noch einmal ganz anders. Möglicherweise ist jede Krise so anders als alle anderen zuvor, dass sich Einsichten und Erfahrungen über Krisen und ihre Folgen sowieso überhaupt gar nicht von einer Dekade auf die nächste übertragen lassen. Das dürfte dann ganz besonders der Fall sein, wenn eine Krise derart fundamentale Veränderungen und disruptive Entwicklungen verursacht, wie es bei der Finanzmarktkrise war. Dann lautet die finale Erkenntnis des 15. September 2008, dass sich aus Krisen lediglich lernen lässt, dass man aus ihnen nur lernen kann, dass offenbar «nach der letzten Krise vor der nächsten Krise» ist, aber nichts darüber, was die nächste Krise verhindern könnte. Nicht gerade viel, aber wenigstens mehr als nichts.