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Modi gegen die Gandhis

Spätestens alle fünf Jahre muss das Unterhaus des indischen Parlaments neu bestellt werden. 2014 gelang es dem damals 64-jährigen Narendra Modi, einem Provinzpolitiker aus dem westindischen Gliedstaat Gujarat, die zuvor lange Jahre regierende Kongresspartei aus dem Amt zu drängen. Modis Indische Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) errang die absolute Mehrheit und hält seitdem, zusammen mit verbündeten Regionalparteien, 341 Sitze.

Die Kongresspartei sank auf einen Rumpfbestand von 44 Abgeordneten. Lange Zeit sah es so aus, als würde der einst von Jawaharlal Nehru und Indira Gandhi geführte Kongress in der Versenkung verschwinden, doch dann gelang ihm vergangenes Jahr in wichtigen, wählerstarken Gliedstaaten ein Comeback. Unter der Führung Rahul Gandhis (49) zieht die Kongresspartei in neuer Stärke als wichtigste Alternative zu Ministerpräsident Modi in den Wahlmarathon.

Indien ist in jeder Hinsicht, nach Bevölkerungsgrösse, nach religiöser, kultureller, sprachlicher und ethnischer Vielfalt, ein Kontinent. Etliche der 29 Gliedstaaten der Indischen Union haben deutlich mehr Einwohner als die grössten Mitgliedstaaten der EU. Zieht man allein die Vielzahl der Sprachen in Betracht, so gleicht Indien einer EU, der auch Russland und die nordafrikanischen Staaten angehören.

Von der Verfassung her kennt Indien eine föderalistische Struktur, die in der Aufgabenteilung zwischen dem Zentral- und den Gliedstaaten mit derjenigen der Bundesrepublik Deutschland vergleichbar ist. Im Verlauf der Zeit haben sich in immer mehr Gliedstaaten Regionalparteien entwickelt, die nicht nur in Lokalwahlen gut abschneiden, sondern auch in nationalen Parlamentswahlen substanzielle Sitzgewinne verbuchen können.

Niemand holt absolute Mehrheit

Offiziellen Angaben zufolge nahmen an den letzten Parlamentswahlen nicht weniger als 450 Parteien teil. Nur sechs Formationen können eine nationale Reichweite beanspruchen, weil sie in mehreren Gliedstaaten vertreten sind. Bei weitem die wichtigsten nationalen Parteien sind die Kongresspartei, die seit der Unabhängigkeit (1947) Indien während der längsten Zeit regiert hat, und die BJP.

Bemerkenswerterweise haben es ideologische Parteien wie Kommunisten oder Sozialisten nie geschafft, über eng begrenzte Segmente in einigen wenigen Gliedstaaten hinauszukommen. Meinungsumfragen sind in Indien notorisch unzuverlässig, doch dürfte nicht falschliegen, wer davon ausgeht, dass am Ende des jetzigen Wahlmarathons keine Partei die absolute Mehrheit der Unterhausmandate gewinnen wird und dass wohl gleich mehrere Regionalparteien den Ausschlag geben werden, wer in der Regierungsbildung als Sieger über die Ziellinie geht.

Indien hat das Westminster-Modell einer parlamentarischen Demokratie mit Einzelwahlkreisen übernommen. Im Durchschnitt dürfte ein Wahlkreis rund 1,5 Mio. Wahlberechtigte umfassen. Dies macht es angesichts der sozialen Vielfalt der Wählerschaft unerlässlich, dass die Kandidaten sich darauf einstellen, viele Wählerkontingente anzusprechen, um die rund 40% Wähleranteil zu erreichen, die es für einen Sitzgewinn braucht.

Entsprechend werden die religiöse Zusammensetzung und, vor allem in ländlichen und kleinstädtischen Wahlkreisen, die Kastenkonstellation in das Kandidaten- und Programmprofil einbezogen. Darüber hinaus hat natürlich auch in Indien das Medienzeitalter dazu geführt, dass die Fokussierung auf einen nationalen Spitzenkandidaten wichtig ist. Zwar kann, vom persönlichen Wahlkreis abgesehen, niemand direkt Kongress-Chef Rahul Gandhi oder Premier Modi wählen, doch ihre Präsenz, sei es in den Medien, sei es bei Massenveranstaltungen, dominiert in jedem Wahlkreis.

2014 hat die BJP eindeutig wegen Modis Charisma die Wahl gewonnen. Voraussichtlich wird er auch diesmal an mancher Front die Kohlen aus dem Feuer holen. Andererseits hat Rahul Gandhi an Profil gewonnen. Wie bereits in den letzten Wahlen streicht Modi auch diesmal seine einfache Herkunft heraus und kritisiert die Kongresspartei scharf, nichts anderes als ein Hofstaat der «ersten Familie» um Sonia und Rahul Gandhi zu sein. Gelegen dürfte Modi kommen, dass auch die Schwester Rahul Gandhis, Priyanka, sich im Wahlkampf engagiert.

Nachdem es lange Zeit danach ausgesehen hatte, dass die BJP angesichts der organisatorischen und programmatischen Schwäche der Kongresspartei einen leichten Sieg erringen würde, haben sich in den vergangenen Monaten die Aussichten für die Regierungspartei eingetrübt. Insgesamt hat sich die Wirtschaft während Modis Amtszeit nicht schlecht entwickelt. In der Infrastruktur, besonders im Strassenbau, sind substanzielle Fortschritte gemacht worden, und mit dem Erlass einer nationalen Mehrwertsteuer hat die Regierung die Integration des Binnenmarktes vorangebracht.

Auch sind dem Land während der vergangenen fünf Jahre Korruptionsskandale und Instabilität erspart geblieben, wie sie die zweite Amtszeit von Modis Vorgänger, Manmohan Singh, überschattet hatten. Doch es ist nicht zu übersehen, dass Modi sein wichtigstes Wahlversprechen, viele neue Arbeitsplätze zu schaffen, nicht erfüllt hat. Während die Senkung der Inflation die ärmeren Schichten entlastet hat, herrscht unter Millionen von Kleinbauern Unzufriedenheit. Ferner ist ungewiss, wie die rund 80 Mio. Neuwähler sich an der Urne entscheiden werden.

Die Wahlen sind ein gigantisches Unterfangen. Der Wahlmarathon dauert auch deshalb so lang, weil riesige organisatorische Aufgaben zu lösen sind und weil die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten ist. Terror, ob seitens marxistischer oder religiöser Extremisten, ist eine dauerhafte Bedrohung. Es gibt viele subversive Gruppen, die auch aus dem nahen oder dem fernen Ausland materielle Unterstützung erhalten.

Die Parteien und die Kandidaten wenden für den Wahlkampf enorme Summen auf. Eine ordentliche staatliche Unterstützung für die anfallenden Kosten gibt es nicht. Viele erachten den riesigen Geldbedarf der Politiker als einen Hauptgrund für die endemische Korruption.

China ist kein Modell

Es liegt nahe, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Indiens mit derjenigen des anderen Milliardenlandes, China, zu vergleichen. Niemand wird bestreiten können, dass China während der vergangenen drei Jahrzehnte gewaltige Fortschritte gemacht hat und dass Indien trotz etlichen Erfolgen hinterherhinkt. Logischerweise folgt daraus die Frage, ob Demokratie denn nicht bloss Luxus sei, ob es für Indiens Arme denn nicht besser wäre, unter einem autoritären, doch wirtschaftlich effizienten Regime wie dem chinesischen zu leben.

Abgesehen davon, ob jemand, der einmal die Werte der bürgerlichen Freiheiten und des Rechtsstaats genossen hat, wirklich eine Diktatur vorziehen würde, gilt es, die solide Verankerung der Demokratie auch in den ärmsten Schichten in Indien zu berücksichtigen. Selbst die einfachsten Menschen sind sich des Werts ihrer Stimme bewusst und schicken deshalb häufig auch sehr mächtige Politiker in die Wüste.

Noch wichtiger ist aber die Tatsache, dass angesichts der Vielfalt seiner Bevölkerung Indien gar keine andere Option hat als die Demokratie. Diese mag zuweilen chaotisch und häufig ineffizient sein, gewährt jedoch auch eine sorgfältige Austarierung gegenläufiger Interessen. Eine Einparteidiktatur würde über kurz oder lang zum Auseinanderbrechen der Indischen Union führen.

Nicht zuletzt ist von grossem Wert, dass die Demokratie den friedlichen Regierungswechsel gewährleistet. Dies wird einmal mehr am 23. Mai zu sehen sein, wenn die Ergebnisse aus den entlegensten Wahlkreisen, vom Vorhimalaja bis zum Südzipfel des Subkontinents, in Delhis Wahlstudios eintreffen.