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Migration und Sozialstaat

Die Schweiz diskutiert das Aber zum institutionellen Rahmenabkommen mit der EU. Ein zentrales Aber betrifft interessanterweise einen im Vertragstext unerwähnten Bereich: die Unionsbürgerrichtlinie (UBRL). Ob die Nichterwähnung nun ein Vor- oder ein Nachteil ist und ob es naiv wäre, den Vertragstext wörtlich zu nehmen, oder ob die «konstruktive Ambivalenz» eine diplomatische Meisterleistung ist, lässt sich unterschiedlich beurteilen. In jedem Fall ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, was die Auswirkungen der UBRL auf die Schweiz wären.

Eine der vier Freiheiten, die Unionsbürger geniessen, ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Dazu gehört das Recht der EU-Arbeitnehmer, sich innerhalb der EU frei zu bewegen und niederzulassen. Diese Niederlassungsfreiheit wurde 2004 angepasst und geht weiter als das aktuell gültige bilaterale Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU, das 1999 unterzeichnet wurde und seit 2002 in Kraft ist. Die Übernahme der UBRL würde also einer vertieften Integration in den EU-Binnenmarkt im Bereich der Personenfreizügigkeit gleichkommen. Was wären die Folgen?

Der Ausbau der Freizügigkeit kann zunächst Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Dabei ist das Arbeitsmarktprofil der Zuwanderer entscheidend: Ist es komplementär zu den Qualifikationen im Inland, oder steht es in direkter Konkurrenz? Wer Konkurrenz erhält, muss mit Lohndruck rechnen, die ergänzenden Fähigkeiten stärken dagegen die eigene Position auf dem Arbeitsmarkt.

Der Abbau von Migrationshürden verursacht auf dem inländischen Arbeitsmarkt also Gewinner und Verlierer. Menschen mit spezifischem Fachwissen werden eher gewinnen. Dies zeigt eine aktuelle Studie von Michael Siegenthaler und Koautoren von der ETH Zürich zur Wirkung der Personenfreizügigkeit in den Schweizer Grenzregionen eindrücklich.

Sogwirkung ist realistische Annahme

Auf der Verliererseite stehen dagegen v. a. einfache Tätigkeiten. Bei gering- und unqualifizierter Zuwanderung kommt es dort zu einem Konkurrenzverhältnis und damit zu Lohndruck im Niedriglohnsegment. Verhindert die Politik Lohnanpassungen durch flankierende Massnahmen, setzt sie in der Wirkung einen Mindestlohn.

Der Mindestlohn verhindert dann, dass Stellen im offiziellen Arbeitsmarkt unterhalb dieses Lohnes entstehen, mit dem Effekt, dass durch die Migration Arbeitslosigkeit zu entstehen droht. Migration und Mindestlöhne auf dem Arbeitsmarkt stehen in einer Marktwirtschaft in einem Spannungsverhältnis. Wer politisch mehr Personenfreizügigkeit mit höherem Lohnschutz erkaufen möchte, riskiert, am Ende mehr Arbeitslosigkeit zu erhalten.

Was sind die politischen Folgerungen? Mit der Ausweitung der Aufenthaltsrechte sollte ein Umbau der sozialen Sicherungssysteme einhergehen. Hohe explizite Mindestlöhne wie auch hohe implizite Mindestlöhne bei Bedarfsleistungen (bspw. Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen) sind inkompatibel mit der Niederlassungsfreiheit. Bei einer allfälligen Übernahme der UBRL müssten Bedarfsleistungen in der Schweiz also viel stärker als Lohnzuschusssystem im Sinne einer aktivierenden Sozialhilfe ausgestaltet werden, um Migration in die Arbeitslosigkeit einzudämmen.

Neben dem Arbeitsmarkt ist auch die Wirkung der Migration auf die öffentlichen Finanzen von Interesse. Wer in die Schweiz einwandert, nimmt nicht nur am Arbeitsmarkt teil, sondern erwirbt auch Rechte an öffentlichen Leistungen und Pflichten zu deren Finanzierung. Zu den öffentlichen Leistungen gehört zu einem wesentlichen Teil der Sozialstaat.

In der wissenschaftlichen Literatur wird intensiv darüber diskutiert, wie stark der Sozialstaat als Wohlfahrtsmagnet eine Sogwirkung auf die Geringqualifizierten ausübt. Die Antwort ist alles andere als trivial, denn es kommt stark auf das Wohlstandsniveau des betrachteten Landes, den Zustand des Arbeitsmarktes, die konkrete Ausgestaltung des Sozialstaats usf. an.

Einen Hinweis auf die mögliche Magnetwirkung des Schweizer Wohlfahrtsstaats gibt der Vergleich des Lohnniveaus in der EU mit dem Sozialhilfeniveau in der Schweiz. Der Median des Nettoeinkommens für eine Einzelperson liegt in der EU bei umgerechnet 1500 Fr. pro Monat.

Das steuerfreie Sozialhilfeniveau bspw. in der Stadt Bern lag vor gut zehn Jahren im Durchschnitt bei etwa 2800 Fr. Auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten ist die Annahme nicht unrealistisch, dass das relativ hohe Niveau an sozialer Sicherung in der Schweiz für sehr viele Menschen in der EU eine grosse Attraktivität ausstrahlt.

Diesen möglichen Belastungen stehen zusätzliche Steuerzahlungen der Migranten in den allgemeinen Staatshaushalt gegenüber. Der Saldo ist entscheidend. Eine Verrechnung von Sozialleistungen und Steuern nimmt die Fiskalbilanz vor. Ist sie positiv, profitiert die ansässige Bevölkerung insgesamt durch Mehreinnahmen, umgekehrt ist Migration eine fiskalische Belastung.

Gemäss Berechnungen von Nathalie Ramel und George Sheldon (Universität Basel) ist die Fiskalbilanz für die Schweiz kurzfristig positiv, doch langfristig negativ. Dabei kommt es auf die Herkunft der Migranten an: Während für Nordeuropa positive Werte errechnet werden, sind sie für Südeuropa langfristig negativ. Berücksichtigt man ausserdem, dass Migration nicht nur beim Sozialstaat Zusatzausgaben zur Folge haben kann, sondern auch im allgemeinen Staatshaushalt, verschlechtert sich die Fiskalbilanz der Schweiz zusätzlich.

Ein nüchterner Blick auf die Wirkungen von Migration offenbart, dass der Ausbau der Freizügigkeit durch die UBRL mit Risiken für den Arbeitsmarkt und die öffentlichen Finanzen verbunden ist. Das Aber zum institutionellen Rahmenabkommen sollte diese Risiken ansprechen. Wie könnte das geschehen?

Rückgriff auf das Heimatort-Prinzip

Die Migration liesse sich mit Eintrittspreisen relativ gezielt so steuern, dass sie den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes wie auch den öffentlichen Finanzen dient. Allerdings steht dieser Art der Einschränkung der Freizügigkeit das heutige Verständnis der EU der Grundfreiheiten entgegen. Eine gute auszuhandelnde Alternative wäre der Rückgriff auf das Heimatortprinzip.

Für den Teil des Sozialstaats, der als Bedarfsleistung über allgemeine Steuern finanziert wird, reduziert es die Sogwirkung des Wohlfahrtsmagneten. Es verringert das Risiko, dass jemand durch Umzug zu höheren Sozialleistungen kommen kann, denn Voraussetzung für ein solches «Upgrade» ist die Einbürgerung.

In der Zwischenzeit erstattet das Heimatland dem hilfsbedürftig gewordenen Migranten die Sozialhilfe nach seinen Gesetzen. Die ansässige Bevölkerung, die das Sozialmodell bisher finanziert hat und die Institutionen pflegt, kann entscheiden, ob sie jemanden für den Zugang zu den sozialen Bedarfsleistungen in ihren «Klub» aufnehmen will.

Bedarfsleistungen auf hohem Niveau sind bei Niederlassungsfreiheit eine Herausforderung für den Arbeitsmarkt und sind langfristig kaum finanzierbar, wenn sie nicht auf die Inländer beschränkt werden.

Das berühmte Zitat von Nobelpreisträger Milton Friedman illustriert den Zielkonflikt: «[…] it is one thing to have free immigration to jobs. It is another thing to have free immigration to welfare. And you cannot have both. If you have a welfare state, if you have a state in which every resident is promised a certain minimum level of income or a minimum level of subsistence regardless of whether he works or not, produces it or not, well then it really is an impossible thing.»

Auch wenn Friedmans Warnung überspitzt sein mag: Ein kleines, reiches Land mit ausgebautem Sozialstaat wie die Schweiz tut gut daran, die Risiken der UBRL sehr ernst zu nehmen.