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Kultur, Klima, Zufall

Wenn Ökonomen Reichtum und Armut der Nationen erklären möchten, verwenden sie oft das Beispiel der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Nördlich befindet sich das reichste Land der Welt, südlich ist der Wohlstand seit mehr als hundert Jahren bedeutend bescheidener. Das Klima in El Paso (USA) und  Ciudad Juárez (Mexiko) ist dasselbe, und die meisten Einwohner in beiden Städten sind europäischer Herkunft. Dennoch herrschen grosse Unterschiede innerhalb von wenigen Kilometern vor. Woran liegt das?

Die Institutionen sind entscheidend, argumentieren die Ökonomen. Die Vereinigten Staaten sind die älteste Demokratie der Welt, haben eine unabhängige Justiz und garantieren die privaten Eigentumsrechte. Generell herrscht ein wirtschaftsfreundliches Klima. In Mexiko sind diese Dinge weniger selbstverständlich. Die Antwort ist sicher richtig, aber vermag doch nicht recht zu befriedigen. Institutionen sind stets Ergebnis von Tradition, Kultur und einer Reihe anderer fundamentaler Faktoren. Sie können nicht am Ende einer Erklärung stehen, sondern nur am Anfang. Die Frage ist doch, warum in Nordamerika die Demokratie so früh entstand und warum die Gewaltenteilung durchgesetzt werden konnte. Hier muss man tiefer in der Vergangenheit graben.

Die historische Forschung liefert dazu verschiedene Erklärungen. Die vielleicht populärste lautet, dass der kulturelle und politische Hintergrund der Einwanderer entscheidend war. Im Norden wanderten Leute aus Nordeuropa ein. Zu Beginn waren es vor allem verfolgte Protestanten von den britischen Inseln, die Sicherheit und Selbständigkeit suchten. Die Monarchie, die ihnen Vorschriften machte, war ihnen verhasst. Sie strebten Formen der demokratischen Selbstverwaltung an.

Argentinien – einst so reich wie Kanada

Als Protestanten waren sie zudem wirtschaftsfreundlicher eingestellt als die portugiesischen und die spanischen Katholiken, die Mittel- und Südamerika kolonisierten. Das Diktum Benjamin Franklins, eines typischen Vertreters der frühen Kolonisatoren, bringt ihre Haltung auf den Punkt: «Bedenke, dass Zeit Geld ist; wer täglich zehn Schilling durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag spazieren geht oder auf seinem Zimmer faulenzt, der darf, auch wenn er nur sechs Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat nebendem noch fünf Schilling ausgegeben oder vielmehr weggeworfen.»

Diese Erklärung, die auf das Werk des deutschen Soziologen Max Weber zurückgeht, hat vieles für sich. Doch sie überzeugt nicht ganz. Jamaika war eine Insel, die von den Engländern besetzt wurde. Gleichwohl haben sich dort keine besonders wirtschaftsfreundlichen Institutionen wie in Nordamerika herausgebildet. Gemäss Weltbank liegt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen unter 10 000 $, dasjenige der USA über 50 000 $.

Des Weiteren vernachlässigt diese Erklärung die grossen Unterschiede innerhalb der USA. Im Süden dominierte lange die Plantagenwirtschaft. Die politische Macht lag in den Händen einer Oligarchie von Grossgrundbesitzern, die zum Teil ganz andere Vorstellungen hegten als die Bewohner des Nordostens. So hatten viele Südstaatler (Katholiken wie Protestanten) kein Problem mit der Sklaverei. Die Plantagenwirtschaft war äusserst profitabel. Es gab wenig Anreize, etwas daran zu ändern.

Wegen dieser Einwände gegen die kulturelle Erklärung haben zwei US-Wirtschaftshistoriker, Stanley Engerman und Kenneth Sokoloff, eine andere Idee entwickelt. Sie behaupten, dass die unterschiedlichen klimatischen Verhältnisse entscheidend waren. In den tropischen Gebieten, wie etwa auch in Jamaika, waren die Bedingungen für Plantagenwirtschaft günstig. Entsprechend dominierte dort der Grossgrundbesitz. Andere Orte wie bspw. der Nordosten oder der Westen Nordamerikas oder Kanada waren hingegen kaum geeignet.

Diese einseitige Verteilung des Bodens ist, so argumentieren Engerman und Sokoloff, der eigentliche Grund für schlechte Institutionen. Wie am Beispiel der Südstaaten erläutert, sind Grossgrundbesitzer wenig interessiert an Demokratisierung, Bildung, staatlichem Gewaltmonopol und funktionierendem Steuerstaat. Sie regeln ihre Verhältnisse lieber selbst. Jamaika ist deshalb für Engerman und Sokoloff keine Ausnahme, sondern ein gutes Beispiel für die grössere Bedeutung des Klimas gegenüber der Kultur. Auch sind die Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden der USA mit den klimatischen Unterschieden gut erklärbar. Im Norden war es schlicht nicht möglich, Baumwoll-, Tabak- und Reisplantagen zu betreiben. Im Süden waren die klimatischen Bedingungen geradezu ideal.

Diese Erklärung hat aber Schwächen. So liegen längst nicht alle Länder Lateinamerikas in den Tropen. Argentiniens südliche Provinzen etwa haben ein gemässigtes Klima. Gleichwohl sind die Institutionen Argentiniens alles andere als ideal für modernes Wirtschaftswachstum. Argentinien hatte vor hundert Jahren etwa denselben Lebensstandard wie Kanada, heute ist das durchschnittliche Einkommen einer argentinischen Familie nicht einmal halb so hoch wie das einer kanadischen.

Unterschiedliche Klimazonen spielten sicher eine Rolle, aber wie bei der Kultur bleibt manches unerklärt. Einige Historiker betonen deshalb die Rolle des historischen Zufalls. So war es ein Zufall, dass ausgerechnet Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón die Reisen Kolumbus’ finanzierten. Aragón hatte nämlich vor allem Interesse am Mittelmeerhandel, und Kastilien war eine Landmacht, die den Atlantik nur für den Export von Schafwolle nach Nordwesteuropa benutzte. Wäre Kolumbus später oder gar nie nach Westen aufgebrochen, hätte die Geschichte des amerikanischen Kontinents womöglich einen ganz anderen Verlauf genommen.

Andere Historiker heben die Zufälligkeit der Meeresströme und der Windrichtungen hervor. Es ist nun einmal so, dass ein Segelschiff, das nach Westen aufbricht, mit grosser Wahrscheinlichkeit in der Karibik landet. Diese frühe Festlegung der Kolonisation hatte grosse Konsequenzen. Die Spanier trafen in Mittelamerika auf hoch entwickelte Zivilisationen, mit denen sie bald in Konflikt gerieten, weil sie deren Schätze stahlen. Hätten Meeresströme und Winde Kolumbus an nur dünn besiedelte Küsten getrieben, wäre die spanische Kolonisation vielleicht von Anfang friedlicher verlaufen.

Die Verstetigung des Erfolgs zählt

Schliesslich gilt es auch zu berücksichtigen, dass die Bodenschätze zufällig verteilt sind. Würden die grossen Goldvorkommen nicht in Kalifornien liegen, sondern an der Ostküste der heutigen USA, hätten die Puritaner nach ihrer Ankunft möglicherweise eine ganz andere politische Geschichte erlebt. Der leicht zu erwirtschaftende Gewinn hätte die strenge Arbeitsethik wahrscheinlich schnell untergraben und bald zu grossen Konflikten unter den Siedlern geführt. Auch die englischen Kolonialbehörden hätten sich anders verhalten. Es wäre alles blutiger und chaotischer verlaufen, eine frühe Aufspaltung des Gebiets wäre die logische Folge gewesen.

Schliesst man all diese unberechenbaren Variablen in die Gleichung ein, sieht alles weniger eindeutig aus, als es im Nachhinein scheint. Kultur und Klima spielten gewiss eine bedeutende Rolle, doch auch glückliche Umstände dürften zum wirtschaftlichen Erfolg Nordamerikas beigetragen haben. Weniger zufällig ist hingegen die Verstetigung des Erfolgs. Länder wie die USA, die schon im 19. Jahrhundert besonders dynamisch waren, sind es heute noch. Nur ausnahmsweise haben es einige Länder wie Japan, Südkorea oder Taiwan geschafft, Wachstumshindernisse aus dem Weg zu räumen und wirklich wohlhabend zu werden. Die lateinamerikanischen Länder gehören bis heute nicht zu dieser Gruppe der erfolgreichen Nachzügler. Die Geschichte, ob ein Produkt des Zufalls oder nicht, wirft lange Schatten.

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