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Kranker Kapitalismus

Eigentlich hat sich John Pierpont Morgan auf eine gesellige Runde gefreut. Gemütlich sitzt der mächtigste Banker Amerikas an diesem Winterabend im Februar 1902 mit Geschäftsfreunden in seinem mondänen Esszimmer mit den roten Wänden und der teuren Eichenholztäfelung. Dann kommt der Telefonanruf. Als Morgan an die Tafel zurückkehrt, kann er seine Erschütterung kaum verbergen. Verdutzt teilt er den Gästen mit, dass sein Eisenbahntrust Northern Securities eben von der Regierung als illegales Monopol verklagt worden ist – und das ohne Vorwarnung von Präsident Theodore Roosevelt, mit dem er seit der Jugend gut bekannt ist. All seine Kontakte in Washington nützen ihm dieses Mal nichts. Northern Securities wird zerschlagen, womit in den Vereinigten Staaten eine breite Kampagne gegen Kartelle und Korruption beginnt.

Mehr als ein Jahrhundert später fragt sich, ob es erneut rigorose Massnahmen braucht. In der Kritik stehen derzeit vor allem Kolosse wie Amazon, Google und Facebook, die sich enorme Marktmacht gesichert haben, weltweit Daten von Milliarden Nutzern sammeln und unser Privatleben ausspionieren. Das Problem geht jedoch weit über den IT-Sektor hinaus. Seit den Achtzigerjahren rollt eine Fusionswelle nach der anderen über Corporate America. In der US-Wirtschaft ist es dadurch zu einer exzessiven Konzentration gekommen. Grafisch dargestellt gleicht die Entwicklung in vielen Branchen dem Turnierbaum eines Grand Slam im Tennis: Ein breites Feld an Wettbewerbern wird mit jeder Runde halbiert, bis sich nur noch wenige Spieler gegenüberstehen.

Bequeme Behörden

Eine vergleichbare Ballung an wirtschaftlicher Macht konfrontierte Amerika um die Wende zum 20. Jahrhundert. In der Manier von Räuberbaronen häuften Industriemagnaten wie J.P. Morgan, John Rockefeller und Andrew Carnegie unvorstellbare Vermögen an, indem sie ganze Sektoren in Trust-Gesellschaften zusammenlegten. Von Tabak und Baumwolle über Kohle, Öl und Stahl bis hin zu Eisenbahnen und Telekommunikation dominierte «Big Business» fast jede Branche. Oft griffen die gigantischen Konglomerate dabei zu unethischen Geschäftspraktiken, nutzten Arbeiter aus und kümmerten sich weder um Kunden noch Konkurrenten. Der Sherman Antitrust Act von 1890 sollte wettbewerbsfeindliches Verhalten zwar verbieten, doch bis zu Roosevelts Schlag gegen Northern Securities waren die Behörden keinem Trust in die Quere gekommen.

Wie zur Zeit der Räuberbarone haben Kartelle heute in den USA wenig zu befürchten. Weder das Justizdepartement noch die Federal Trade Commission nehmen ihre Verantwortung als Kartellwächter richtig wahr. Nicht selten unterstützen sie Übernahmen sogar. Ihr Versagen lässt sich mit Zahlen belegen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Marktkonzentration in 75% aller Branchen während der vergangenen zwei Jahrzehnte zugenommen hat. Nahezu 90% der angekündigten Zusammenschlüsse werden umgesetzt. Transaktionen werden in der Regel nur dann abgeblasen, wenn es sich die Fusionspartner anders überlegen. Wie hilflos die Wettbewerbshüter sind, hat die vergebliche Klage gegen die 85 Mrd. $ teure Grossakquisition von Time Warner durch AT&T vergangenen Sommer verdeutlicht. Der letzte bedeutende Eingriff der Kartellwächter war der Fall Microsoft vor zwanzig Jahren.

Die Konsequenzen dieses Fusionsbooms sind verheerend, denn ein fairer Wettbewerb ist eine Grundvoraussetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Gerne wird bei Akquisitionen mit Synergien argumentiert, von denen auch die Konsumenten profitieren würden. Die Realität sind überhöhte Preise, ein Mangel an Innovation und mieser Kundenservice. Tatsächlich bringen Skaleneffekte in manchen Branchen volkswirtschaftlichen Nutzen; speziell in netzwerkbasierten Sektoren wie Telecom und Elektrizität. Gerade wenn es um die Infrastruktur geht, schneiden die USA aber desolat ab. In der Breitbandversorgung etwa rangieren sie am hinteren Ende der Industrieländer. Andere Studien zeigen, dass US-Mobilfunkkunden jährlich bis zu 65 Mrd. $ weniger zahlen würden, wenn die Rahmenbedingungen so ausgestaltet wären wie in Deutschland oder Dänemark, wo der Markt am besten vergleichbar ist.

Besserung ist nicht in Sicht. Durch die Übernahme von Sprint durch T-Mobile teilen sich bald nur noch drei Betreiber den Mobilfunkmarkt auf. Nicht weniger problematisch ist die Situation im Gesundheitswesen, wo immer grössere Spitalketten wie HCA, CHS oder Tenet den Wettbewerb lahmlegen. Weit fortgeschritten ist die Konsolidierung ebenso unter Krankenkassen wie UnitedHealth, Humana und Cigna. Das erklärt mitunter, weshalb die Gesundheitskosten exorbitant höher sind als in jedem anderen westlichen Land. Ein weiteres Beispiel ist der Flugverkehr. Mit United, Delta, American sowie Southwest kontrollieren vier Airlinegesellschaften in einem komfortablen Oligopol den Luftraum. Entsprechend kann es sich ein Konzern wie United leisten, einen zahlenden Kunden gewaltsam von seinem Sitz aus dem Flugzeug zu zerren. Ein derartiges PR-Fiasko belastet nicht einmal den Aktienkurs, wie der Anlageberater und Autor Johnathan Tepper in seinem ausgezeichneten Buch «The Myth of Capitalism» festhält.

Ähnliche Skandale sorgten während der Dominanz der Trusts für Schlagzeilen. Fleischfabriken beispielsweise waren derart mit Ungeziefer verseucht, dass nicht selten Ratten mit zu Würsten verarbeitet wurden. Um Konsumenten zu schützen, setzte Roosevelt 1907 den Pure Food and Drug Act in Kraft, der die Basis zur Gesundheitsbehörde FDA legte. Im Kampf gegen Kartelle nahm er sich nicht zufällig J.P. Morgan als erstes Ziel vor. Der New Yorker Financier war massgeblich in der Gründung von Industrieriesen wie General Electric, US Steel und AT&T involviert, die bis heute Ikonen der amerikanischen Wirtschaft sind. Dazu nutzte er enge Beziehungen in die Politik. «If we have done anything wrong, send your man to my man and they can fix it up – wenn wir etwas falsch gemacht haben, schicke deinen Mann rüber zu meinem, sodass sie die Sache bereinigen können», soll er Roosevelt vorgeschlagen haben. Von heimlichen Absprachen wollte dieser aber nichts wissen.

Versteckte Verflechtungen

Vetternwirtschaft und intransparente Einflussnahme von Unternehmensverbänden weichen auch heute das Vertrauen in den Kapitalismus auf. Donald Trump auf der Rechten und Bernie Sanders auf der Linken mobilisierten 2016 die Massen mit der Parole, dass das System korrumpiert sei. Die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung hat unter anderem mit personellen Verflechtungen zu tun, mit denen Unternehmen die Politik beeinflussen. Anschaulich zeigt sich das an der Finanzmarktreform Dodd-Frank. Zehn Jahre nachdem Grossbanken die Weltwirtschaft beinahe zum Kollabieren gebracht haben, sind rund 30% der Anwälte und 40% der ranghohen Beamten, die das Dodd-Frank-Gesetz ausgearbeitet haben, für oder in Finanzinstituten tätig, ergeben Recherchen der «Washington Post».

Kein Wunder also, erhalten populistische Strömungen Zulauf. Unter Präsident Roosevelt ging die US-Regierung damals zwar mit über vierzig Klagen gegen Kartelle vor, was ihm den Nimbus als «Trustbuster» eintrug, doch der Republikaner beabsichtigte nicht, das Establishment zu stürzen. Vielmehr engagierte er sich für einen gesellschaftlichen Konsens, der Grosskonzerne im Zaum hält, Verbraucher schützt und Chancengleichheit garantiert. Eigentumsrechte und Wettbewerb bildeten denn auch die Grundlage, auf der die USA in den folgenden Jahrzehnten zur führenden Wirtschaftsmacht avancierten. Historisch sind diese kapitalistischen Prinzipien in den Vereinigten Staaten tief verwurzelt. Bereits die Boston Tea Party, die Ende 1773 den Auftakt zur amerikanischen Revolution markierte, war im Kern ein Aufstand gegen die British East India Company, das wohl grösste Monopol aller Zeiten.