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Jorge Viladoms: Sonate für einen Slamdog

Jorge Viladoms: «Damit Musik nicht abstrakt bleibt, motiviere ich die Schüler, Universen zu visualisieren, um die verschiedenen Ebenen einer Komposition zu verstehen.»

Als 15-Jähriger beginnt er, in Mexiko Klavierstunden zu nehmen. Eher zufällig und ohne zu wissen, was ihn erwartet. Eigentlich wollte Jorge Viladoms Ingenieur werden, die Idee seines Vaters, eines berühmten Chirurgen.

Wie seine Brüder plante er, sich in Europa auszubilden, nach Frankreich zu reisen. Doch es kommt alles ganz anders. Der Junge landet in Genf, ohne Geld. Er nimmt sein Schicksal in die Hände, hofft auf bessere Tage und verdient als Glaceverkäufer etwas Geld.

Meister Zufall spielt eine Rolle in der Begegnung mit einem Professor, der am Lausanner Konservatorium Flöte unterrichtet. Neugierig, was der junge Mexikaner ohne Musikerfahrung zu bieten hat, lädt dieser ihn zum Vorspielen ein.

Er erkennt das ungewöhnliche Talent des Jungen, der seine Musik ohne Schüchternheit ausdrückt. Dies ist der Beginn einer fulminanten Karriere, Konzerte folgen in schneller Folge, aber Jorge Viladoms bleibt dem Lausanner Konservatorium treu.

Die 155 Jahre alte Institution hat grosse Virtuosen hervorgebracht, etwa den Violinisten Renaud Capuçon, der heute als Professor an der Schule tätig ist. Im Alter von nur 31 Jahren besitzt Jorge Viladoms eine beeindruckende musikalische Vielfalt, er will sein Wissen weitergeben und Strassenkinder durch die Musik retten.

Ihre Passion für das Klavier kam erst spät. Was war der Auslöser? - Bis zu meinem 13. Lebensjahr war ich nicht besonders an Musik interessiert. Ich erlebte eine sehr schöne, behütete Kindheit in Mexiko, umgeben von meinen Eltern und meinen beiden älteren Brüdern. Mein Vater war Chirurg und ein passionierter Mann. Er vermittelte uns seine Begeisterung, seine Neugier, seine Energie.

Als ich 14 Jahre alt war, starb er. Der Schock war verheerend, wir verloren unsere ganze Orientierung. Es war brutal. Auf unseren vielen Umzügen ging unser Hab und Gut verloren, ausser dem Flügel, den wir von unserer Grossmutter geerbt hatten. Niemand interessierte sich wirklich dafür.

Ich begann darauf zu klimpern, nahm dann Stunden bei einer uralten Dame ohne jedes pädagogische Talent. Nur wenn ich improvisierte oder komponierte, schien mich die Musik zu tragen. In jenem Jahr erwachte in mir das Bewusstsein für die Kunst. Ich musste unbedingt Antworten auf meine Fragen finden. Ich begann viel zu lesen, vor allem die Existenzialisten, entdeckte einen Fatalismus, das Bewusstsein des Todes. Und die Dankbarkeit dem Leben gegenüber.

Wie standen Sie zur klassischen Musik? - Ich war total unwissend. Ich fand, dass das Spielen die Welten, die ich beim Komponieren kreierte, einschränkte. Ein völliger Irrtum natürlich. Mein Wissen in Bezug auf Interpretation war sehr klein. Als ich 18 Jahre alt war, war mein Wissensmangel so gross wie ein Ozean. Ich wusste nicht mal, wie man eine Partitur liest. Ich hatte ja nur drei Jahre Klavierunterricht gehabt.

Aber am Conservatoire de musique von Lausanne hörte man mir zu, meiner Musik, die ich mit Leib und Seele und aller Inbrunst spielte. Ich sehe noch die überraschten Professoren vor mir, beeindruckt vom Vortrag eines jungen, unwissenden Mexikaners. Sie ermöglichten mir dann den Zugang zum Konservatorium und offerierten mir Klavierstunden.

Eine unglaubliche Chance. Mein Professor Pierre Goy nahm mich unter die Fittiche. Eines Tages dann machte es klick. Durch eine angelehnte Türe hörte ich eine junge Studentin beim Spiel der Etüde Op. 12 Nr. 8 von Scriabin. Das Stück nahm mich gefangen, ich wollte es sofort spielen. Aber mein Lehrer weigerte sich, da er es für mein Spielniveau als viel zu komplex betrachtete.

Frustriert arbeitete ich daran eine ganze Woche lang, sechs Stunden täglich. Dann spielte ich ihm die Etüde vor und zwar auswendig. Ich sah sein Lächeln. Und so machte ich schnell Fortschritte. Ich machte meinen Master in Pädagogie, als 26-Jähriger wurde ich Titularprofessor am Lausanner Konservatorium. Dann gab ich Konzerte, wobei aber stets ich den Rhythmus bestimmte.

Wollten Sie denn nicht Konzertpianist werden? - Nein, das wollte ich nicht. Ich liebe die Lehrtätigkeit. Literatur und meine Fantasiewelten helfen mir, Musik zu vermitteln. Damit Musik nicht etwas Abstraktes bleibt, motiviere ich die Schüler, Universen zu visualisieren, um die verschiedenen Ebenen einer Komposition zu verstehen. Man muss lernen, Musik zu geniessen – wie ein kulinarisches Gericht, dessen Gewürze, Aromen.

Inwiefern waren Sie anders? - Um meine Wissenslücken zu füllen, musste ich die Musik interpretieren, schonungslos und ohne mir Grenzen zu setzen. Als junger Mensch war ich ohne Furcht. Heute habe ich Lampenfieber, denn ich stelle mir mehr Fragen. Je älter ich werde, desto mehr bin ich mir des musikalischen Universums bewusst, dessen Immensität, die mir Angst macht. Ich bin lediglich das Verbindungsglied zwischen dem Komponisten und dessen Genie und dem Publikum. Ohne Zuhörer gäbe es keine Musik. Ich suche die Perfektion.

Was denken Sie heute über Ihre Karriere? - Ich bin sehr dankbar. Ich bin viel weiter gekommen, als ich je zu hoffen wagte. Das Konservatorium bietet mir Rahmen, Infrastruktur, Qualität, Empfang und gleichzeitig eine Seele. Ich liebe das Unterrichten. Und als Interpret habe ich die moralische Pflicht, Musik zu teilen. Und ich mag Lausanne mit seinem grossen Kulturangebot.

Ihre grossen Momente? - Natürlich war das Konzert in der Carnegie Hall ein schwindelerregendes Erlebnis. Nur schon daran zu denken, dass hier Horowitz und andere Grössen aufgetreten sind. Phänomenal. Grossartig war auch, im Hai Chicon in Nagoya oder in Tokyo aufzutreten. Aber meine grössten Emotionen hatte ich nicht in den grossen Sälen.

Welches war denn Ihre vollkommenste Interpretation? -  Es war privat, vor einem 95 Jahre alten, kranken Freund. Ich spielte sein Lieblingsstück, nur für ihn allein. Ich hatte keine Angst mehr, ich fühlte, wie die Musik von mir direkt zu meinen Freund floss. Ich habe keinen einzigen Fehler gemacht, ich habe alles losgelassen. Das war ein einmaliger Moment.

Ihre nächste wichtige Etappe? - Ich habe eben für Sony Classics ein Album aufgenommen, eine Koproduktion mit RTS, die im Juni herauskommen wird. Ich spiele mit dem Cellisten Lionel Cottet. Das Album heisst «L’Amérique latine à Paris, Carnets de voyage». Wir spielen lateinamerikanische Komponisten, die in Paris gelebt haben. Es hat aber auch Musik von Debussy und Ravel dabei. Diesen Sommer gehen wir auf grosse Promotionstour.

Sind Sie nie zwischen Ihrer Karriere als Interpret und als Professor hin- und hergerissen? - Nein, ich lasse dies auch nicht zu. Ich habe das grosse Glück, an einmaligen Festivals und in grossartigen Hallen aufzutreten, ohne Teil des Starsystems sein zu müssen. Das ist eine grosse Chance.

Als 26-Jähriger gründeten Sie die Stiftung «Crescendo con la Musica» mit dem Ziel, unbemittelten Kindern und Jugendlichen zu helfen und ihnen den Zugang zur Musik zu ermöglichen. Was ist der Hintergrund dieses Wunsches? - Ich hege diesen Wunsch schon seit langem. Ich möchte Kindern helfen, indem ich ihnen die Musik zugänglich mache, welche auch mich gerettet hat. Mein Vorbild ist meine Mutter, die sich in Mexiko in Waisenhäusern engagierte. Die Kinder verbrachten die Wochenenden bei uns. Ich kann mich noch an ihre Namen und Gesichter erinnern. Der Einsatz meiner Mutter war unermüdlich, grenzenlos.

Als ich im Alter von 22 Jahren nach vier angenehmen Jahren in der Schweiz nach Mexiko zurückkehrte, war ich von der Armut erneut schockiert. Die Stiftung «Cresendo con la Musica» ist für mich eine Möglichkeit, Musik zu teilen, wie in einem Konzert oder in einer Unterrichtsstunde. Dieses Gleichgewicht nährt mich.

Ihre Stiftung ist auch in der Schweiz und in Kenia aktiv. Über welche Mittel verfügen Sie? - Anfänglich finanzierte ich die Stiftung mit meinen Konzertgagen, später organisierte ich Galavorstellungen. Dank diesen Einnahmen konnte ich hundert Musikinstrumente in eine Schule in Mexiko schicken, darunter drei Klaviere, die das Konservatorium zur Verfügung stellte.

Wir bieten auch Gesangs- und Musikstunden an. Ohne die Stiftung hätten die Kinder keinen Zugang zur Musik. Die Kunst verleiht ihrem Leben Sinn, hält sie von den Gefahren der Armut und der Kriminalität ab. Professoren des Konservatoriums sind ebenfalls nach Mexiko gereist, um Musikunterricht zu erteilen. Sie haben festgestellt, dass Musik, vielleicht noch mehr als in der Schweiz, eine grosse Hilfe ist.

In Kenia entdeckte ich einen geradezu apokalyptischen Slum und eine Schule gleich neben einer Müllhalde. Die Armut in Mexiko ist eine spirituelle, ihr Weg ist vorgezeichnet, aber Musik kann neue Perspektiven eröffnen. In Kenia hingegen ist die Armut eine materielle, den Kindern fehlt es an allem. Ich möchte abseits der Müllanlage ein kulturelles Zentrum bauen.

In der Schweiz bietet die Stiftung jungen Menschen Stipendien an. Um die Stiftung weiter zu entwickeln, organisieren wir Galavorstellungen in New York und in der Schweiz. Die nächste findet in Genf am 19. Oktober im «Bâtiment des Forces Motrices» statt. Auftreten werden der Violonist Renaud Capuçon, die Primaballerina Aurélie Dupont, der Pianist Louis Schwizgebel und Alessio Carbone, Premier danseur an der Opéra de Paris. Eine Musik-Tanz-Aufführung.

Stehen Sie an Konzerten unter Druck? - Ich setze mich selbst unter Druck. Ich fürchte, nicht auf der Höhe des Genies des Komponisten zu sein und dem Publikum nicht die bestmögliche Leistung zu bieten.

Gibt es Komponisten, an die Sie sich noch nicht wagen? - Ja und nein. Ich unterrichte sie, aber spiele sie nicht. Bach zum Beispiel. Ich hege eine grosse Verehrung und Liebe für Bach, aber ich spiele ihn nicht an Konzerten. Ich bin von meinem Spiel nicht überzeugt und kann somit auch nicht das Publikum überzeugen. Ich fühle mich viel wohler mit anderen Komponisten. Ich liebe die Impressionisten, die Romantiker, die Postromantiker. Sie berühren mich sehr.

Das Ego als Ihr schlimmster Feind? - Ja, ich denke schon. Es gibt einen grossen Erwartungsdruck. Heute drängen sich Interpreten viel zu stark in den Vordergrund. Dabei ist es eigentlich der Komponist, den man ehren soll, dessen Genie. Natürlich brauche auch ich Anerkennung, aber ich möchte künstlerischen Narzissmus vermeiden. Ein heikler Punkt und schwierig in Griff zu kriegen.

Umso mehr, als Sie ein grossartiges Image haben. Nervt Sie das? - Ja, ich muss jetzt Imagepflege betreiben. Man erwartet nicht unbedingt einen klassischen Musiker im Luxusbereich. Ich muss deshalb auf meine Entscheidungen und mein Image achten, mich nicht täuschen lassen. Was mir an mir gefällt, ist meine Geschichte, die Geschichte eines Pianisten aus Mexiko, der mit 15 Jahren seine Kunst begonnen hat. Bis jetzt hat die Stiftung von mir und meinem Image profitiert. Aber daneben tue ich noch vieles andere mehr, ich unterrichte, mache Projekte mit Tänzern, entwickle Konzepte, erforsche Musik auf zeitgenössische Art.

Sie sind Botschafter der Uhrenmarke Jaeger-LeCoultre. Wie hat diese Partnerschaft begonnen? - Anlässlich meiner Rede an der Gala der fünfzig Persönlichkeiten, die Mexiko prägen. Ich traf Vertreter von Jaeger-LeCoultre, die einen Botschafter suchten. Wir haben uns intensiv ausgetauscht und ich war schnell bereit, die Aufgabe anzunehmen, zumal ich die Marke seit langem liebe. Ich besuchte die Manufaktur, sprach mit den Uhrmachern, hörte die grossen Schlagwerke. Ich fühle mich dem Unternehmen sehr nahe.

Welches sind die Ähnlichkeiten mit der Musik? - Es ist metaphysisch. Ich interessiere mich für Quantenphysik, die Relativität der Zeit. Uhrmacher und Musiker haben ein Instrument in den Händen, das ihnen hilft, diese Konzepte zu verstehen. Zeit und Musik sind zutiefst immateriell. Unsere Instrumente sind vergleichbar. Die Innenleben eines Klaviers und einer Uhr funktionieren ähnlich, indem die Mechanik die ihnen innewohnende Seele verstärkt. Zudem unterstützt Jaeger-LeCoultre meine Stiftung und die Galas. Eine Luxusmarke mit echter sozialer Verantwortung. Ich fühle mich sehr geehrt.

Wie sehen Sie die Zukunft der klassischen Musik bei den Jungen? - In der Ausbildung! Die junge Generation mag das schnelle Vergnügen, siehe Social Media, und das ist gefährlich. Musik heisst, sich selbst zu finden, sie ist Meditation, Eintauchen in sich selbst, spüren, was nicht gut ist, arbeiten, scheitern, wiederbeginnen, durchhalten, Erfolg haben. Klassische Musik kann helfen, Antworten zu finden. Die Zukunft heisst definitiv Ausbildung.