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«Jedes Risikomodell stellt sich als falsch heraus»

«Konflikte mit den operativen Einheiten sind unvermeidlich», sagt Patrick Raaflaub.

Patrick Raaflaub will als Chief Risk Officer des Rückversicherers Swiss Re so gradlinig sein, wie er es von 2008 bis Anfang 2014 als Chef der schweizerischen Finanzmarktbehörde Finma war. Den neuen Job hat der 51-Jährige im September 2014 angetreten. Er soll verhindern, dass Swiss Re leichtfertig wie zuletzt 2008 in eine bedrohliche Lage gerät.

Bei einer Visite von «Finanz und Wirtschaft» am Sitz des Versicherers in Zürich versucht Raaflaub nicht, mit mathematischem Schnickschnack zu imponieren: «Jedes Risikomodell stellt sich früher oder später als falsch heraus – dann nämlich, wenn etwas eintritt, woran die Konstrukteure des Modells nicht gedacht hatten».

Die eidgenössische Finanzmarktaufsicht wie auch Swiss Re mussten durch schwierige Zeiten. Was an Lehren gezogen wurde, und weshalb vieles heute besser gehandhabt wird, wird Raaflaub noch erklären. Zunächst sagt er aber unmissverständlich: «In der Swiss Re haben wir entschieden, zurückhaltender zu agieren und mehr Kapital vorzuhalten, als es die Regulierung vorschreibt.»

Wegen der Finanzmarktkrise 2008 verlor Swiss Re zeitweise ein Drittel des Eigenkapitals. Die Aktien fielen binnen weniger Monate um beinahe 90%. Das Unternehmen hatte die damals noch wenig etablierten Kreditversicherungsderivate (Credit Default Swaps) als eine neue Variante von Versicherungen entdeckt. Die CDS-Kurse implodierten, als der Derivathandel mit zunehmendem Verlauf der Krise austrocknete. «Diese Aktivitäten waren Irrläufer», sagt Raaflaub.

Für Swiss Re war es mit dem Image des sauberen und hypersoliden Konzerns schlagartig vorbei. «Diese prägende Erfahrung mit Finanzmarktrisiken spielt in allen Gremien weiterhin mit», sagt der heutige Risikochef. «Gerettet hat uns damals, dass der Kern des Unternehmens immer bei bester Gesundheit blieb.»

Swiss Re holte sich im dunkelsten Moment Anfang 2009 ein Notdarlehen. Im traditionellen operativen Geschäft reihte das Unternehmen jedoch Erfolg an Erfolg. Die Erholung der Finanzmärkte tat das übrige, um den Eigenkapitalausweis rasch wieder aufzufüllen.

Dezidiert und ketzerisch

Raaflaub hatte Politikwissenschaft studiert, bevor er erst für die Credit Suisse arbeitete und anschliessend ein Start-up der Beratungsbranche mitgründete. 1994 stieg er bei Swiss Re in die Finanzabteilung ein, wo er sich bis zum Leiter Kapitalmanagement hocharbeitete. 2008 wechselte er zur Finanzmarktaufsicht Finma, wo er sich bald mit dezidierten und für den damaligen Zeitgeist ketzerischen Bemerkungen exponierte.

Er forderte, die schweizerischen Banken müssten sich in ureigenem Interesse auf eine Zukunft ohne Rückenwind durch das Bankkundengeheimnis einrichten – und er tat dies lange, bevor die politische Schweiz den Bankkundenschutz auf internationalen Druck hin aufweichte. Und der Versicherungswelt riet er damals schon, das Geschäftsmodell besser unverzüglich als zögerlich auf eine ultralang dauernde Phase niedrigster Zinsen umzustellen.

Als Chief Risk Officer von Swiss Re ist Raaflaub eine Art Gewissen des Unternehmens. «Zusammen mit meinem Team stelle ich immer wieder die What-if-Frage und konfrontiere damit die Manager aller Stufen, die für Swiss Re bindende Transaktionen abschliessen wollen: Was ist, wenn es doch anders kommt?»

Hundertfünfzig Jahre trotz Grossverlusten

Was ist, wenn die Schadensummenberechnungen der Physiker und Mathematiker der Swiss-Re-Gruppe einem Extremszenario nicht standhalten? Was, wenn Viren eine in grossem Stil tödlich verlaufende Epidemie auslösen und Versicherer massiert Todesfallpolicen bezahlen müssten? Was, wenn ein Sprung in den medizinischen Möglichkeiten die Menschen hundertzwanzig Jahre alt werden liesse, obschon die Versicherer ihre Renten- und Vorsorgeverträge für maximal hundert Lebensjahre kalkulierten? Und was, wenn Hyperinflation aufkäme und versicherte Leistungsfälle schlagartig nominell weit grösser ausfielen als von der Assekuranz budgetiert?

Extreme Vorkommnisse und überhaupt «das Unerwartete» gehören zum Geschäft eines Rückversicherers. Diese Spezialisten der Versichererbranche tragen das Spitzenrisiko. Jedes Rückversicherungsunternehmen nimmt aber nur jeweils ein Stück solcher Risikospitzen, kombiniert es mit vielen Stücken anderer, oft auch unterschiedlich geprägter Grossrisiken; immer mit dem Ziel einer vorteilhaften Diversifikation. Doch auch dieses Vorgehen hat nicht verhindert, dass die bereits 150-jährige Schweizer Rück grosse Verlustjahre überstehen musste.

Eine Riesenbelastung fiel auf das Unternehmen, als 2001 der Terroranschlag auf die Zwillingstürme in New York enorme Schäden und menschliches Leid  verursachte. Teuer wurde es auch 2005, als Hurrikan Katrina mit voller Wucht dicht besiedelte und hoch versicherte Gebiete im Süden der USA verwüstete. Aber aus dem Ruder lief das Resultat erst, als es am Finanzmarkt krachte. Das war so beim Platzen der Technologieaktienblase 2002, als Swiss Re mit einem Aktienanteil von 19% des investierten Anlagevermögens zu sportlich unterwegs war. Es war ebenso der Fall während der Finanzmarktkrise 2008/09, und es kann jederzeit erneut zu Marktverwerfungen und Überraschungen kommen.

Raaflaub und seine Leute engagieren sich deshalb im Innern des Unternehmens dafür, die Hoheit zu behalten über den Risikoappetit der Swiss Re: «Dazu haben wir zusammen mit dem Verwaltungsrat Leitlinien erlassen.» Versicherungs- wie auch Anlagerisiken sollen einzig so weit eingegangen werden, wie ihr Risikogehalt durch beobachtbare Intensität und Häufigkeit sowie daran geknüpfte Wahrscheinlichkeitsberechnungen möglichst umfassend kalkuliert werden kann.

Doch wie verhält sich der Chief Risk Officer, wenn Chefs der operativen Geschäftseinheiten des Konzerns sich von den Risikokontrolleuren zurückgepfiffen fühlen und klagen, angebahnte Transaktionen würden durchfallen? «Solche Konflikte sind manchmal unausweichlich, doch mit sachlicher Argumentation und transparenter Risikodarstellung lassen sie sich entschärfen», meint Raaflaub.

«Durchsichtig» machen, damit möglichst viele Facetten eines Kontrakts erkennbar sind, ist Raaflaubs Passion. Er arbeitet in diesen Tagen an einem verfeinertem Konzept des Risikomanagements. Von seinen Direktunterstellten verlangt er deshalb einen Sondereinsatz. «Die Zeit drängt, um nicht den Fahrplan einer ohnehin anstehenden Statutenrevision zu gefährden», begründet er. Das bestehende Geflecht von Geschäftsbegrenzungen und Bewilligungskompetenzen soll in eine konsistentere Form gebracht werden.

Raaflaub will dabei auch auf den Radar bringen, was gesellschaftliche und technologische Entwicklungen an Ungewissheit bringen, etwa mit Nanotechnologie, dem elektromagnetischem Feld oder dem Missbrauch digitaler Daten und Cyberkriminalität. «Schwächstes Glied jeder Massnahme zur Risikobegrenzung ist der Mensch», sagt Raaflaub, «weil wir Menschen allzu oft Regeln nachlässig einhalten oder Aufgaben unaufmerksam erledigen.» Wie verlässlich der Risikomanager seine Aufgabe für Swiss Re erfüllt, werden ihre Aktionäre an jedem weiteren Quartalsabschluss messen können.

Belastungsprobe mit Stresstests  

Wofür der Risikochef von Swiss Re geradestehen muss – zusammen mit dem Fachausschuss des Verwaltungsrats –, lässt sich im Geschäftsbericht des Konzerns nachlesen. Aufgelistet wird, wie sich mögliche realwirtschaftliche und finanzmarktliche Sprünge auf die Solidität und den Weiterbestand des Unternehmens auswirken könnten.

Interne Stresstests ermitteln, wie schwer Swiss Re von Grossereignissen getroffen würde, die historisch nach statistischer Auswertung lediglich ein Mal alle zweihundert Jahre eintreffen sollten. Ein besonders schwerer Hurrikanschaden in den USA würde das Unternehmen bis zu 5,6 Mrd. $ kosten, ein besonders heftiges Erdbeben in Japan bis 3,2 Mrd. Eine Korrektur der Aktienbörsen um 30% würde gemäss Stresstest 2,9 Mrd. $ wegwischen.

Solchen möglichen Grossverlusten steht das Eigenkapital von zuletzt 37 Mrd. $ gegenüber. Das Regulativ des Schweizer Solvenztests SST der Finma berechnete zum Stichtag Ende 2015 eine Kapitalvorgabe von 19,6 Mrd. $.

Für das, was der Konzern 2015 an Versicherungskontrakten und Kapitalanlagen auf den Büchern hatte, mussten je rund 16 Mrd. $ Absorptionskapital bereitgestellt sein. Diese Brutto-Kapitalanforderung von gut 32 Mrd. hat der Konzern dank günstiger Diversifikationseffekte um 13 Mrd. netto auf die genannten 19,6 Mrd. $ eingedampft. Hinter diesem Effekt stehen Wechselwirkungen, etwa dass bei gewissen Vorkommnissen bestimmte Risiken voll durchschlagen, während gleichzeitig sich andere Gefahren aus dem gleichen Grund vermindern. Dass Swiss Re für den Investmentteil des Konzerns ähnlich viel Risikokapital wie für das eigentliche Versicherungsgeschäft stellen muss, mag auf ersten Blick überraschen. Doch das Unternehmen investiert an den Finanzmärkten 117 Mrd. $, was dem Dreifachen des Eigenkapitals entspricht. Die Geldanlage dient der Deckung von Verpflichtungen und Rückstellungen.

Der überwiegende Teil des Vermögens steckt in Anleihen staatlicher und privater Schuldner. Ein weiterer Anstieg der Marktrenditen würde die Kurse der gehaltenen Obligationen drücken. Teilweise auflösen würde sich dann die im Eigenkapital enthaltene Anleihenaufwertung. Die Flüchtigkeit dieser Buchgewinne ist mit Grund dafür, dass die Swiss-Re-Aktien zu lediglich dem 0,9-Fachen des Buchwerts notieren.

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