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Japan öffnet sachte den Arbeitsmarkt

Vor rund anderthalb Jahrhunderten waren es die «schwarzen Schiffe» des amerikanischen Kommodore Matthew Perry, die Japan zur Öffnung zwangen. Heute ist es die hausgemachte Demografie, die das Land der aufgehenden Sonne zu einem wegleitenden Kurswechsel zwingt.

Der immer akuter werdende Arbeitskräftemangel hat die Regierung von Ministerpräsident Shinzo Abe veranlasst, die bis anhin äusserst restriktive Einwanderungspolitik einem durchgreifenden Wandel zu unterziehen. Im vergangenen Dezember hat die Regierung ein Gesetz durch das Unterhaus gebracht, dem zufolge die Erteilung von Visa für die Immigration von Arbeitskräften erheblich erleichtert und erstmals auf ungelernte Arbeitnehmer ausgedehnt wird.

Premier Abe, der im vergangenen Herbst seine Position an der Spitze der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) für weitere drei Jahre gesichert hat und damit zu dem am längsten dienenden Regierungschef seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde, hat sich an mehreren kritischen Fronten als entschlossener Erneuerer profiliert.

Die Bandbreite seiner politischen Initiativen reicht von der Normalisierung der japanischen Verteidigungskapazitäten über Geopolitik bis hin zu Massnahmen, die die sozioökonomischen Folgen der Schrumpfung und der Überalterung der japanischen Bevölkerung  entschärfen sollen.

Auch wenn Abe mit seinen Forderungen nicht überall durchdringt, so stehen die Aussichten doch günstig, dass er in der Immigrationsfrage mit seinem Kurswechsel erfolgreich ist. Zu gross ist der gesellschaftlich-wirtschaftliche Druck, unter dem Japan in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu leiden haben wird.

Besonderer Gesellschaftsvertrag

Immigration ist in allen Industriestaaten ein heikles politisches Thema. Dies gilt in besonderem Masse für Japan. Obschon die ursprüngliche Bevölkerung des Inselreichs aus verschiedenen Gegenden im nahen und im ferneren Asien zugewandert war, hat sich im Verlauf der Geschichte der Mythos einer besonders ausgeprägten Kohäsion des japanischen Volkes verfestigt.

In der Tat gibt es keine nennenswerten ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten. Japan hat sich seit der weitreichenden Meiji-Restauration im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine aussergewöhnlich starke nationalstaatliche Identität zugelegt. Ganz bewusst wurde die Zuwanderung von Ausländern abgeblockt, nicht zuletzt mit dem Ziel, den aussergewöhnlichen Gesellschaftsvertrag, der das Fundament der Inselnation bildet, zu erhalten und nicht durch fremde Einflüsse zu verwässern.

Lange Zeit war dies ein erfolgreicher Kurs, der auch entscheidend zum spektakulären Aufstieg Japans zur zweitstärksten Industriemacht der Welt beitrug; «Japan Inc.» wurde für viele Staaten ein nachahmenswertes Vorbild. In jüngster Zeit, ungefähr seit dem Jahrtausendwechsel, sieht der japanische Weg indessen nicht mehr so attraktiv aus. Schon seit etlichen Jahren weisen alle relevanten Indikatoren darauf hin, dass Japan sich in einer demografischen Krise befindet.

Die Bevölkerung altert rasch und schrumpft mit höherer Geschwindigkeit. Während die erhebliche Steigerung der allgemeinen Lebenserwartung ohne Zweifel eine erfreuliche Entwicklung ist, muss die Schrumpfung der Bevölkerung zu grosser Besorgnis Anlass geben. Im vergangenen Jahr verzeichnete das Innenministerium die geringste Zahl von Neugeborenen seit dem Beginn der Erhebungen 1899. Seit drei Jahren liegt die Zahl der Geburten unter derjenigen der Todesfälle. Japans Gesamtbevölkerung von heute 127 Mio. wird bis 2050 auf 107 Mio. zurückgehen.

Die Schrumpfung und die Überalterung der Bevölkerung haben weitreichende wirtschaftliche Konsequenzen. Zum einen vermindert sich der Binnenkonsum. Bereits heute haben, von der Alters- und der Gesundheitsversorgung abgesehen, die meisten Wirtschaftszweige mit rückläufiger Nachfrage zu kämpfen.

Immer zahlreicher sind die Unternehmen, die nur noch wachsen können, wenn sie den Absatz ihrer Güter und Dienstleistungen in Übersee zu steigern vermögen. Ohne das chinesische Wirtschaftswunder hätte Japan schon seit längerem unter substanziellem Wachstumsrückgang zu leiden. Tokio ist derzeit nicht zu Unrecht über die grösseren weltwirtschaftlichen Auswirkungen des amerikanisch-chinesischen Handelsstreits besorgt.

Etliche der makroökonomischen Konsequenzen der Demografie werden erst in einigen Jahren spürbar werden. Rascher, als es viele japanische Politiker lange Zeit wahrhaben wollten, schlagen die Überalterung und die Schrumpfung der Bevölkerung derzeit auf den Arbeitsmarkt durch. In mehreren Berufsbereichen zeichnet sich ein akuter Notstand ab.

Im Vordergrund stehen der Gesundheitssektor, die Bauwirtschaft und die Landwirtschaft. Dabei geht es primär nicht um hoch qualifiziertes Personal. Dies hat die Regierung Abe veranlasst, in den jüngsten Reformen die Regeln für die Aufenthaltsbewilligung erstmals auch für Arbeitskräfte mit geringen beruflichen Qualifikationen zu erleichtern.

Während für die Zulassung hoch qualifizierter Arbeitskräfte, an denen besonders in der Informationstechnologie ein grosser Bedarf besteht, längere Aufenthalte und der Nachzug der Familie bewilligt werden, erhalten wenig qualifizierte Arbeitskräfte den Gastarbeiterstatus mit strikter Limitierung und ohne Familienanhang.

Heute sind von Japans 127 Mio. Einwohnern 2,5 Mio. Ausländer, was rund 2% der Gesamtbevölkerung entspricht. Die meisten sind koreanischer oder chinesischer Abstammung und leben in der Regel seit zwei oder gar mehr Generationen in Japan. Nach Abes Plan soll die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte bis 2025 um 500 000 erhöht werden.

Dies hat Kritik aus verschiedenen Lagern ausgelöst. Konservative, die eine Aufweichung der rigiden Immigrationspolitik nicht wünschen, bemängeln, dass sich die Regierung vor den neuen Migrationsmassnahmen nicht eingehender um nationale Lösungen bemüht hat. So wird kritisiert, dass Japans Arbeitsmarkt für Frauen noch immer sehr steinig ist.

Abe hat zwar mehrere Erleichterungen für Frauen angekündigt, die auch nach der Gründung einer Familie berufstätig bleiben möchten, doch die Realität sieht noch immer anders aus, und Japan steht weiterhin sehr schlecht da, was die Mobilisierung weiblicher Arbeitskräfte und besonders auch die Karrieremöglichkeiten nach dem Wiedereinstieg ins Berufsleben nach der Gründung einer Familie betrifft.

Lebensarbeitszeit verlängern?

Von anderer Seite wird angeregt, dass Japan den Arbeitskräftemangel durch eine markante Erhöhung des Pensionsalters mildern sollte. In Japan werden die Menschen immer älter, und ihr allgemeiner Gesundheitszustand im Alter wird auch immer besser; dies rechtfertige es, das Berufsleben bis in die frühen Siebziger auszudehnen.

Bedenken gegen eine längere Lebensarbeitszeit kommen auch aus Gewerkschaftskreisen, die alle Modifikationen des Arbeitsmarktes, sei es durch ausländische Zuzüger, sei es durch eine liberalere Handhabung des Pensionsalters, als akute Gefahr für das besondere japanische Gesellschaftssystem ablehnen. Von dieser Seite wird die Lockerung der Visabestimmungen wie der internen Arbeitsbedingungen bereits als Gefahr eines allgemeinen Lohndumpings bezeichnet.

Schliesslich gibt es auch noch wichtige Stimmen, die an die Erfahrungen erinnern, die Europa und Nordamerika mit Masseneinwanderung gemacht haben. Sie drängen darauf, die Automatisierung und den Einsatz von Robotern auch in traditionellen Dienstleistungsberufen zu intensivieren und damit den Bedarf an Arbeitskräften zu verringern. Mit Sicherheit wird Japan vom bisherigen Kurs einer vorsichtigen Insularität nicht von heute auf morgen abweichen.