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Japan gewinnt geostrategisches Profil

Unter den traditionellen Industriestaaten sticht Japan derzeit durch innenpolitische Stabilität und aussenpolitische Dynamik heraus. Dies ist zu einem wesentlichen Teil das Verdienst von Ministerpräsident Shinzo Abe, der mit seiner Bestätigung für weitere drei Jahre an der Spitze der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) im Herbst auf Kurs ist, Japans dienstältester Regierungschef zu werden.

Ein erstes Mal gelangte der heute 64-jährige Shinzo Abe im September 2006 an die Regierungsspitze. Nur ein Jahr später musste er bereits den Hut nehmen. Abe schien sich damit in die lange Reihe der kurzlebigen Ministerpräsidenten einzufügen, die Japan seit der Etablierung der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg geführt hatten.

Doch Abe kam im September 2012 nach dem erbärmlichen Zwischenspiel einer hoffnungslos zersplitterten Regierung unter der Führung der Demokraten erneut an die Macht und hat sie bis heute nicht mehr abgegeben. Spätestens im Herbst 2021 sind die nächsten Gesamterneuerungswahlen für das japanische Unterhaus fällig.

Im vergangenen September wurde Abes Mandat als Vorsitzender der LDP verlängert. Dies bedeutet, dass – sofern nichts Aussergewöhnliches passiert – Japan zumindest für die zwei bevorstehenden Jahre auf eine konsolidierte und unbestrittene Regierungsführung setzen kann.

Von Abenomics zur Geopolitik

Nachdem er 2012 an die Macht zurückgekommen war, legte Abe den Fokus auf die Wirtschaft. Mit einer Reihe von Reformen, die unter dem Schlagwort Abenomics zusammengefasst wurden, sollte das anämische Wirtschaftswachstum angekurbelt werden. Inzwischen anerkennen auch Kritiker zwar, dass Abe in der Haushalts-, der Geld- und der Währungspolitik Erfolge zu verzeichnen hat, dass jedoch, was Strukturreformen betrifft, weiterhin grosser Nachholbedarf besteht.

Wie dem auch sei, in den vergangenen zwei Jahren, besonders seit der Wahl von Donald Trump und der Bestätigung von Xi Jinping als Chinas allmächtiger Staats- und Parteichef, hat sich das öffentliche Interesse von der Wirtschaft auf die Geopolitik und auf Japans Stellung in der Welt verlagert.

Chinas Wiederaufstieg zur Weltmacht und die spürbare Verwässerung der Pax Americana in mehreren Teilen Asiens werfen lange Schatten auf Japan. In der Regel gehört Aussenpolitik nicht zu den Schwerpunktthemen japanischer Regierungen, und in der Sicherheitspolitik halten sie sich gewöhnlich zurück. Premier Shinzo Abe hat nun, teils von internationalen Entwicklungen getrieben, teils dem eigenen Gusto folgend, neue Akzente gesetzt.

Schon vor seinem Aufstieg an die Regierungsspitze war bekannt, dass Abe zu einer konservativen, von Kritikern gar als «nationalistisch» kritisierten Haltung in Sachen Landesverteidigung und nationales Selbstverständnis neigt.

Zu den internen Bruchstellen der japanische Politiklandschaft gehören die Beurteilung des Zweiten Weltkriegs und des japanischen Imperiums sowie die Haltung gegenüber der von den Amerikanern verordneten Nachkriegsverfassung. In beidem hat Abe eine dezidiert konservative Einstellung. Vor allem ist ihm an einer Verfassungsrevision gelegen, die den heutigen Artikel 9 beseitigt: Er verpflichtet Japan im Prinzip zum Pazifismus und beschränkt seine militärischen Kapazitäten weitgehend.

Interessanterweise hatten die Amerikaner bereits während des Koreakriegs (1950 bis 1953) von ihrem Friedensvermächtnis Abschied genommen und Japan, das der amerikanische General Douglas MacArthur als «unsinkbaren Flugzeugträger» bezeichnete, zur aktiven militärischen Unterstützung der Alliierten gedrängt.

Während es höchst unwahrscheinlich ist, dass die völlige Beseitigung von Artikel 9 in der für eine Verfassungsänderung nötigen Volksabstimmung durchkommen würde, ist das Streben Ministerpräsident Shinzo Abes nach mehr sicherheitspolitischem Spielraum für Japan eindeutig. Bezeichnenderweise geht diese wichtige Entwicklung einher mit weitreichenden tektonischen Veränderungen in Asien und mit neuen geopolitischen Trends im Pazifikraum.

Gleich an mehreren Fronten hat China in den vergangenen Jahren sein neu gewonnenes Machtbewusstsein demonstriert, vom ambitiösen Obor-Projekt («One Belt one Road») über die Vereinnahmung zahlreicher Inseln und Atolle im Südchinesischen Meer bis hin zu Vorstössen der Marine der Volksrepublik in den Indischen Ozean. Dies alles sind direkte Herausforderungen an Japan, das angesichts seiner Energieimporte aus Nahost und seines Aussenhandels mit Asien und Europa lebenswichtige Versorgungslinien bedroht sieht.

Zu den Pfeilern der LDP-Herrschaft gehört das unzerbrechliche Bündnis mit den USA. Während die japanische Linke gleichzeitig auf die Aufrechterhaltung von Artikel 9 und die Beseitigung der amerikanischen Basen pocht, auf Okinawa wie auf dem gesamten japanischen Archipel, weiss die grosse Mehrheit der Japaner, dass ein wehrloses Nippon keine Überlebenschance hat.

Die jüngsten Machtansprüche Chinas haben diese Meinung noch gefestigt. Vor diesem Hintergrund ist Tokios Besorgnis darüber zu sehen, dass die USA unter Präsident Trump in einem wirklichen Ernstfall vielleicht nicht mehr unerschütterlichen Beistand leisten würden.

Zwar scheint Abe ein relativ gutes Verhältnis zu Trump zu haben, doch ist auch Japan vor der Sprunghaftigkeit des US-Präsidenten nicht gefeit. Unvergessen ist die abrupte Kündigung der amerikanischen Teilnahme am Transpazifischen Freihandelsabkommen, das vor allem auf die Eindämmung einer aggressiven chinesischen Einflussnahme fokussiert war.

Mit seinem wachen Instinkt für sicherheitspolitische Trends und Interessenlagen ist Abe der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt: Wie kaum ein anderer japanische Spitzenpolitiker kümmert er sich um die geostrategisch wichtigen Beziehungen Japans zu Indien, zu Südostasien und zu Australien.

Indiens Premierminister Narendra Modi steht ganz hoch oben in der Wertschätzung Abes, und Japan hat in den vergangenen Jahren sowohl über Privatinvestitionen wie auch über staatliche Grossprojekte seine Präsenz in Indien gewaltig ausgebaut. Ähnliches gilt für Indonesien, Thailand und Malaysia. Ein Blick auf die Karte zeigt die strategischen Gründe dieses Engagements.

Gemeinsame Interessen mit Russland

In jüngster Zeit scheint nun auch Bewegung in die russisch-japanischen Beziehungen zu kommen. Wegen des Streits um die Kurilen, die im Nachgang zu Japans Kapitulation von den Siegermächten an die damalige Sowjetunion abgetreten wurden, hat Tokio nach wie vor keinen Friedensvertrag mit Moskau.

Bis anhin hat sich Japan geweigert, einem Kompromiss zuzustimmen. Es sind indessen sowohl geopolitische als auch wirtschaftliche Gründe, die für eine japanisch-russische Annäherung sprechen. Beide Länder sehen mit Sorge den Machtzuwachs Chinas. Für Japan wäre ein Zugriff auf die gewaltigen Ressourcen Sibiriens von grossem Wert, weil dadurch die Verletzlichkeit der langen Versorgungslinien markant zurückgestutzt werden könnte.

Aussen- und Sicherheitspolitik verlangen nicht nur Durchsetzungskraft, sondern auch einen langen Atem. Beides hat Shinzo Abe. Er ist in der Regierungspartei weitgehend unbestritten, und er kann vor allem dank seiner frischen Bestätigung an der Partei- und der Regierungsspitze langfristig operieren.

Ohne sich um die weitgehend machtlose Opposition kümmern zu müssen und ohne absehbare Rivalen, die ihm innerhalb der eigenen Partei gefährlich werden könnten, kann Abe es sich leisten, viel Zeit und Einsatz für den Profilgewinn seines Landes auf der internationalen Bühne zu verwenden. Dass ihm der internationale Auftritt offensichtlich behagt, macht die Einflussnahme des japanischen Ministerpräsidenten noch umso wirksamer.

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