Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Italiens unberechenbare Regierung

Seit dieser Woche befinden sich Italiens Politiker in den Sommerferien. Der parlamentarische Betrieb ruht. Im Palazzo Chigi zu Rom, dem Sitz des Ministerpräsidenten, geht kaum noch jemand ein oder aus, seit das Kabinett nicht mehr zusammentritt. Vor zweieinhalb Monaten nahm die neue Regierung aus der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und Lega ihre Arbeit auf. Es ist zwar bereits die 65. Regierung in der Nachkriegsgeschichte, aber dennoch eine Premiere: das erste populistische Experiment der 62-jährigen Republik.

Erstmals steuern Parteien, ohne Regierungserfahrung die Geschicke des Landes. Ausserdem kam die Regierung einzig deshalb zustande, weil sich die Koalitionspartner nur darauf einigen konnten, wogegen sie sind, nicht wofür sie eintreten. Gemeinsam lehnen sie die italienischen und europäischen Institutionen, so wie sie bestehen, ab, einschliesslich des politischen Status quo. Das Ganze wird bis heute verpackt in einfache Formeln. Fast bei jeder Gelegenheit nehmen Regierungsvertreter «die Eliten» unter Beschuss und niemand hält es für notwendig, zu definieren, wer genau damit gemeint ist.

Alles sollte anders werden, versprachen die neuen Volksvertreter Anfang Juni. Eine Regierung der Veränderung sei angetreten. Das Ausland blickte geschockt nach Rom. Nicht weil zuvor in Italien alles optimal gelaufen war, sondern weil sich mangels eines glaubwürdigen politischen Programms nicht abschätzen liess, wie radikal der politische Wandel tatsächlich ausfallen würde und was nur kämpferische Rhetorik war ohne konkrete Folgen. Um es gleich vorwegzunehmen: Diese grundsätzliche Frage ist auch 75 Tage nach dem Antritt nicht geklärt. Dennoch zeigt sich, dass die Koalition bisher weniger am Status quo rüttelt, als sie in Aussicht stellte.

Ambivalente Bilanz

Das ist dem M5S zu verdanken. Vergangene Woche hat die Regierung ihr erstes Gesetzesdekret in beiden Häusern des Parlaments durchgebracht. Es handelt sich um eine Reform des Arbeitsrechts. M5S-Parteichef und Arbeitsminister Luigi Di Maio hatte im Wahlkampf versprochen, die von der Regierung Renzi vor drei Jahren in Kraft gesetzte Flexibilisierung des Arbeitsmarkts rückgängig zu machen. Renzi hatte u. a. den weitreichenden gesetzlichen Kündigungsschutz aufgehoben (Artikel 18 im Arbeiterstatut) und damit den linken Flügel seiner Partei und die Gewerkschaften gegen sich aufgebracht.

Di Maio liess sich am Ende davon überzeugen, dass nicht alles in Renzis «Jobs Act» so falsch war. Der umstrittene Artikel 18 wurde nicht wieder eingeführt, wie ursprünglich in Aussicht gestellt worden war. Dafür erhöht sich die Kündigungsentschädigung von aktuell vier bis 24 Monaten auf sechs bis 36 Monate. Der von Renzi beschrittene Kurs, befristete Arbeitsverträge einzudämmen, wird im neuen Gesetz beschleunigt. Die erlaubte Dauer sinkt von 36 auf 24 Monate. Das Gesetz ist eine realistische Kursanpassung zugunsten der Arbeitnehmer. Von einem radikalen Wechsel ist es weit entfernt.

In ihren ersten Schritten lässt sich die populistische Exekutive also von Realpolitik leiten. Das gilt sowohl im Guten als auch im Schlechten, wie sich im Fall der Antikorruptionspolitik zeigt. Kommt es in Italien zu einem Regierungswechsel, werden bald darauf die Führungspositionen in den Staatsbetrieben ausgewechselt. Personen mit dem richtigen Parteibuch rücken nach. Fähigkeit und Fachkenntnis spielen dabei keine Rolle. Es ist einer der traurigsten Auswüchse einer klientelistischen Auffassung von Politik und einer der Gründe dafür, dass nationale Champions wie Alitalia sowie zahlreiche lokale Versorgungsunternehmen und Sparkassen über die Jahrzehnte finanziell ausgebeutet und heruntergewirtschaftet wurden.

Wer darauf baute, dass M5S als einer der wichtigsten Kritiker dieser Praxis selbst anders vorgehen würde, sieht sich eines Besseren belehrt. Lega und Fünf Sterne schachern sich untereinander Führungspositionen in der Wirtschaft genauso unverblümt zu wie ihre Vorgänger. Bereits ist der erste Korruptionsfall aufgeflogen. Der Chef der römischen Wasserwerke musste wegen Verstrickungen mit einem halbseidenen Bauunternehmer seinen Hut nehmen: ein Rechtsanwalt, der den M5S im Wahlkampf unterstützte und dafür vom amtierenden Justizminister mit dem lukrativen Posten belohnt wurde.

Auf Konfrontationskurs ging bisher allein die Lega. Sie verhält sich genauso populistisch, radikal und anklagend, wie man es von der gesamten Regierung befürchtet hatte. An vorderster Front steht natürlich Innenminister Matteo Salvini mit seinem Verbot, Schiffe mit Flüchtlingen aus Afrika an Bord italienische Häfen anlaufen zu lassen. Aber auch der Familienminister sorgt regelmässig für Schlagzeilen und Aufmerksamkeit, indem er vor Mikrofonen diskriminierende Stellungnahmen abgibt.

Als Juniorpartner arbeiten die Rechtspopulisten daran, ihre politische Visibilität zu erhöhen. Um im Gespräch zu bleiben, ist ihnen jedes Thema recht, sei es auch noch so wirr, wie etwa der Kampf gegen die Impfpflicht für Schulkinder. Die Lega versucht, im Mitte-rechts-Lager Berlusconis «Forza Italia» und den rechten «Fratelli d’Italia», die beide in der Opposition sitzen, Stimmen abzujagen. Im Herbst wird in einigen Regionen gewählt. Umfrage zeigen, dass diese Taktik aufgeht.  Salvinis Lega verstärkt dadurch indirekt auch ihre Machtposition in der Regierungskoalition.

Ein heisser Herbst

Das könnte sich schon bald als fatal erweisen. Nach der Sommerpause muss die Regierung den Staatshaushalt  2019 schnüren. Während bisher beide Koalitionäre ihre eigenen Süppchen kochten und jeweils den anderen gewähren liessen, wird das nun nicht mehr möglich sein. Beim Budget müssen Prioritäten gesetzt werden und muss die Bereitschaft vorhanden sein, Kompromisse einzugehen. Danach sieht es momentan aber nicht aus. Beide pochen auf ihre Maximalforderungen. M5S will ein Bürgereinkommen für alle durchsetzen, die Lega eine niedrige Flat Tax einführen und das Pensionsgesetz aushebeln, um u. a. Frühpensionierungen erneut zu erleichtern. Schon im Wahlkampf haben unabhängige Forschungsinstitute vorgerechnet, dass sich das finanziell nicht machen lässt, es sei denn, Italien verschuldet sich massiv neu.

Damit würde das Land aber seinen Kurs der vergangenen Jahre aufgeben, das Staatsdefizit sukzessive zu verringern. Italien ist Europas grösster Staatsschuldner und darauf angewiesen, dass Investoren im Ausland die Staatsanleihen kaufen. Fast jede dritte dieses Jahr im Euroraum neu angebotene Staatsanleihe stammt aus Rom. Politische Fehlsignale kann sich Italien nicht leisten. Bereits vor der Türkeikrise hat sich der Risikoaufschlag erhöht. Investoren aus Europa und dem Rest der Welt reduzierten ihre Italienpositionen. Rund 100 Mrd. € pro Monat flossen ab, nach Frankreich und anderswo.

Die Sorgen sind berechtigt. Italiens neue Regierung navigiert bisher ohne Kompass. Der parteilose Premierminister Giuseppe Conte ist nur formal Regierungschef. Wirtschafts- und Finanzminister Giovanni Tria ist zwar als Wirtschaftsprofessor vom Fach – er wurde eingesetzt, um die Finanzmärkte und den skeptischen Staatspräsidenten zu besänftigen –, doch auch er hat kein Parteibuch. Beiden fehlt die Machtbasis, um sich im Kampf der Koalitionäre, der sich anbahnt und massiv zu werden droht, durchzusetzen. Die Zentrifugalkräfte in der Koalition nehmen bereits zu. Diese Woche wurde ein Gesetzesentwurf des M5S bekannt, der Rentenkürzungen für Besserverdienende vorsieht, um das Bürgereinkommen zu  finanzieren. Er richtet sich direkt gegen die Stammwähler der Lega.

Ab der zweiten Septemberwoche wird der Haushalt im Parlament debattiert. Bis Mitte Oktober muss der Entwurf nach Brüssel geschickt sein, um dort abgesegnet zu werden. Politisch wird Italien seine heisseste Phase erst erleben, wenn der Sommer vorüber ist.