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Indien im Vorwahlfieber

Spätestens im Frühjahr 2019 sind die Neuwahlen zu Indiens Unterhaus, Lok Sabha, fällig. Bereits heute wirft der Urnengang lange Schatten auf die indische Innenpolitik. Zu erwarten steht, dass die Regierung in den kommenden Monaten alles tun wird, um die Wirtschaft zu stimulieren und die breiten Massen mit allerlei populistischen Geschenken bei Laune zu halten.

Wie in Grossbritannien besitzt auch in Indien der Ministerpräsident die Prärogative, den Termin für die Durchführung der Parlamentswahlen festzusetzen. Allerdings kann er nicht über die Schwelle der fünfjährigen Legislaturperiode hinausgehen. In der Regel wartet man nicht bis zum letztmöglichen Termin, um in der Lage zu sein, von einer guten Stimmung unter der Wählerschaft rechtzeitig zu profitieren. Gewählt wird in Einzelwahlkreisen nach dem Majorzprinzip. Wie anderswo auch hat das Medienzeitalter indessen dazu geführt, dass der Fokus auf den Spitzenkandidaten liegt. Die regierende Bharatiya-Janata-Partei (BJP, Indische Volkspartei) hat im Unterhaus eine solide Mehrheit und ist nicht wie die beiden vorangehenden von der Kongresspartei angeführten Koalitionsregierungen von kleinen Interessengruppen erpressbar.

Der klare Sieg der BJP im Frühjahr 2014 war Narendra Modi zuzuschreiben, dem früheren Chefminister des westindischen Gliedstaates Gujarat. Er schaffte es im Alleingang, die Wählerschaft für eine Partei zu mobilisieren, die im Gegensatz zur «ewig» regierenden Kongresspartei der Nehru-Gandhi-Dynastie – von wenigen Jahren abgesehen – auf nationaler Ebene nur eine marginale Rolle gespielt hatte. Auch als Regierungschef hat sich Modi als unangefochtene Führungsperson profiliert und in den vergangenen drei Jahren die BJP in einer Mehrheit der indischen Gliedstaaten an die Macht katapultiert. Zusammen mit seinem strategisch gewandten Parteipräsidenten Amit Shah ist es Modi gelungen, in zuvor weitgehend BJP-freien Territorien zu obsiegen.

Hochkomplexe Demokratie

Indien ist nicht nur die grösste, sondern auch die komplexeste Demokratie der Welt. Ein Wahlkreis umfasst im Durchschnitt über 1 Mio. Wähler unterschiedlicher Religion, Kaste und gesellschaftlicher Schicht. Die Union insgesamt ist von kontinentalen Ausmassen und erheblich komplexer als die gesamte EU. Die föderale Struktur mit gewählten Repräsentanten auf kommunaler, gliedstaatlicher und nationaler Ebene bringt es mit sich, dass laufend irgendwo im Riesenland mit seinen 1,35 Mrd. Menschen Wahlen stattfinden. Dies hat zur Folge, dass schon heute Vorwahlfieber herrscht, etwa ein Jahr vor den Wahlen. Jede Nachwahl, jede Kommunalwahl und selbstverständlich jede Erneuerungswahl zu einer der gliedstaatlichen Legislativen wird von den Medien und den Politikexperten aufmerksam verfolgt, und die Resultate werden endlos diskutiert und analysiert.

Die bei weitem meisten Jahre in der Geschichte des seit 1947 unabhängigen Indien war die Kongresspartei an der Macht. Nach zwei Amtsperioden unter Premier Manmohan Singh musste die Kongresspartei 2014 eine vernichtende Niederlage hinnehmen. Noch nie zuvor war die Partei von Nehru, Indira Gandhi und Rajiv Gandhi auf einen Tiefststand von 44 Mandaten im 543 Sitze umfassenden Unterhaus gesunken. Seit Kurzem hat der Kongress einen neuen Vorsitzenden, Rahul Gandhi, den Enkel Indira Gandhis. Zuvor hatte dessen Mutter, Sonia Gandhi, die Partei während fünfzehn Jahren geführt.

Fest steht bereits heute, dass das Duell zwischen Narendra Modi (68) und Rahul Gandhi (48) den Wahlkampf prägen wird. Modi wird seine langjährige Erfahrung und seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen betonen, derweil Rahul Gandhi mit dem Stigma wird kämpfen müssen, seine hohe Position allein der dynastischen Abfolge zu verdanken. Unverkennbar ist jedenfalls, dass Modi, ein begnadeter Redner, viel besser beim Volk ankommt als der wenig überzeugende Rahul Gandhi, dem zudem das Handicap anhängt, nie im Leben einen echten Job ausgeübt zu haben.

Ginge es bei den nächsten Wahlen schlicht um das Duell Modi-Gandhi, so könnte man die Sache für gelaufen halten. Doch so einfach sind die Dinge nicht. Ein Grossteil der Wähler mag arm und häufig auch des Lesens und des Schreibens unkundig sein. Manche externen Beobachter schliessen daraus, dass Demokratie im Fall Indiens nicht funktionieren kann, ja dass sie ein Luxus sei in einem so armen, rückständigen Land. In Tat und Wahrheit ist der indische Wähler schlau und für so manche Überraschung gut. Zumindest haben die Menschen die Vorzüge des Mehrparteiensystems erkannt und nehmen mit Vergnügen das Privileg wahr, von Zeit zu Zeit die Mächtigen aus dem Amt zu werfen. Häufig kann sich der scheinbare Amtsbonus als Bürde erweisen.

Modi gewann die Wahl von 2014 mit vielen Versprechen, von denen angesichts der notorischen Ineffizienz der indischen Bürokratie und angesichts der schieren Dimensionen der Probleme viele von vornherein nicht zu verwirklichen waren. Hinzu kommt, dass Modi von der Vorgängerregierung gewaltige Missstände wie allgegenwärtige Korruption auf allen Stufen von Politik und Verwaltung sowie einen schwer angeschlagenen staatlichen Finanzsektor hatte übernehmen müssen. Ferner folgten Massnahmen wie die Entwertung von hohen Rupiennoten im November 2016, die nach Angaben der Regierung dem Schwarzgeld den Garaus machen sollte, in Wahrheit aber weitgehend wirkungslos verpuffte und darüber hinaus den kleinen Mann abstrafte. Die fehlerhafte Einführung einer landesweiten Mehrwertsteuer, an und für sich ein überfälliges Vorhaben, sorgte für weitere Verärgerung.

Noch stehen bis zu den nationalen Wahlen solche in Gliedstaaten an. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass es dabei zu Rückschlägen für die BJP kommen könnte. Auch bilden sich derzeit lokale Parteiallianzen, die in den wählerstarken Gliedstaaten zu empfindlichen Sitzverlusten für die BJP führen könnten. Zudem ist unübersehbar, dass etliche hohe Amtsträger sich Pfründen zugelegt und den Kontakt zum Volk verloren haben. Noch rangiert Premier Modi in Beliebtheitsskalen weit vor jedem möglichen Rivalen. Es müssten gravierende Ereignisse sein, die einen massiven Einbruch seiner Popularität nach sich ziehen könnten. Zudem wünschen sich viele Vertreter der indischen Wirtschaft eine zweite Amtszeit Modis, in der er die bisher ausgebliebenen Reformen nachholen kann.

Ärmere Schichten sind unzufrieden

Indiens Wähler sind bekannt für ihre Wankelmütigkeit, und bis zum Wahltag können sich noch etliche Überraschungen einstellen. Bis anhin hat die Regierung Modi nicht so grosse Korruptionsskandale geliefert, wie sie 2014 zur Abwahl der von der Kongresspartei geleiteten Koalition geführt hatten. Andererseits ist es prominenten Finanzbetrügern gelungen, aus Indien zu fliehen und sich der Strafverfolgung zu entziehen. Die Auslieferungsbegehren New Delhis haben bisher nicht gefruchtet, und in der Bevölkerung macht das Gerücht die Runde, dass ihr auch gar nicht an einer Rückkehr der Betrüger gelegen sei. Wenn nun die BJP mit einer Stimmung des «Es geht dem Land gut» in den Wahlkampf ziehen will, so läuft sie Gefahr, abgestraft zu werden.

Ansehnliches Wirtschaftswachstum, ein guter Ausweis in der Inflationsbekämpfung und eine willkommene Dynamisierung der indischen Aussen- und Sicherheitspolitik können die Unzufriedenheit vor allem der ländlichen und der armen städtische Bevölkerung darüber, bisher zu wenig vom Kuchen des nationalen Reichtums erhalten zu haben, nicht aufwiegen. Letztlich wird alles davon abhängen, ob der talentierte Wahlkämpfer Modi seine Glaubwürdigkeit als Vertreter des kleinen Mannes als Trumpfkarte für die Wiederwahl der BJP-Regierung wird ausspielen können. Nicht zuletzt für die indische Wirtschaft steht viel auf dem Spiel.

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