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In Peking wird nicht mehr diskutiert

Der Name Lou Jiwei ist im Westen vielleicht nicht allen geläufig, aber unter Financiers und Wirtschaftspolitikern ist der ehemalige chinesische Finanzminister sehr bekannt und hoch angesehen. Anfang April hat die chinesische Regierung jedoch die Entlassung Lous von seinem Posten als Vorsitzender des nationalen Sozialversicherungsfonds angekündigt. Dieser Schritt ist Ausdruck eines geänderten Ansatzes Pekings in der Regierungsführung, der wahrscheinlich grundlegende Auswirkungen auf die Zukunft des Landes haben wird.

Die Entlassung Lous stellt einen Bruch mit den Gepflogenheiten der Vergangenheit dar: Seine drei Vorgänger waren durchschnittlich viereinhalb Jahre im Amt und gingen allesamt nach Vollendung ihres 69. Lebensjahres in Rente. Der 68-jährige Lou hatte seine Position nur wenig mehr als zwei Jahre inne. Die chinesische Führung nannte auch keinen Grund für seine Entlassung, aber eine wahrscheinliche Erklärung bietet sich an. Lou hat sich in letzter Zeit als ausgesprochener Kritiker der ehrgeizigen industriepolitischen Agenda Chinas unter dem Titel Made in China 2025 hervorgetan und sie als Verschwendung öffentlicher Gelder bezeichnet.

Made in China 2025 hatte bereits vorher den Argwohn der westlichen Handelspartner Chinas erregt. Sie betrachten das Programm als Versuch Pekings, sich unfairer Methoden zu bedienen – nämlich strategische Sektoren staatlich zu stützen –, um dem Westen den Rang als Weltführer in Spitzentechnologien abzulaufen. Die Agenda war einer der Faktoren, die US-Präsident Donald Trumps Handelskrieg mit China auslösten.

Ende des Konsenses

Seit dem Ausbruch dieses Handelskonflikts hat Chinas Führung den Hype rund um die Initiative Made in China 2025 bewusst gedämpft. Das ist ein Hinweis darauf, dass man die hohen Kosten, die mit der Fortführung dieses Programms verbunden sind, erkennt. Aus dieser Perspektive betrachtet ist Lous Kritik auch nicht besonders skandalös – ausser natürlich, die chinesische Führung gibt nur vor, sich von dieser Strategie abzuwenden, bis die Spannungen im Handelsbereich abflauen.

Doch die Konsequenzen der Entlassung Lous reichen weit über das Programm Made in China 2025 hinaus. Lou ist ein tatkräftiger Reformer und kann auf eine diesbezüglich glänzende Bilanz verweisen. Seine Entlassung unterstreicht den zunehmenden Grad an Intoleranz der chinesischen Regierung unter der Führung von Präsident Xi Jinping gegenüber selbst der kleinsten innenpolitischen Meinungsabweichung, auch wenn es sich um das Thema Wirtschaft handelt, das innerhalb der Führung recht offen diskutiert wurde. Dieser Ansatz könnte sich als katastrophal erweisen.

Seit Xis Machtübernahme im Jahr 2012 haben sich die Entscheidungsfindungsprozesse in der obersten Ebene der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) bis zur Unkenntlichkeit verändert. Früher ermöglichte eine kollektive Führung, dass abweichende Ansichten geäussert werden durften, und Entscheidungen wurden weitgehend durch Konsensfindung getroffen – ein langsamer Prozess, der in manchen Fällen dazu führte, dass Chancen vertan wurden. Trotzdem handelte es sich dabei um einen bedeutenden Mechanismus des Risikomanagements. Die Offenheit für unterschiedliche Sichtweisen sorgte dafür, dass untaugliche oder gefährliche Ideen verworfen wurden und dass der KPC unter der Führung der beiden Vorgänger Xis, Jiang Zemin und Hu Jintao, keine katastrophalen strategischen Fehler unterliefen.

Widerspruch ist strafbar

Unter Xi trat jedoch die zentralisierte Führerschaft an die Stelle kollektiver Entscheidungsfindung. Der Freiraum für legitime Meinungsabweichungen wurde durch die Erwartung politischer Loyalität und Konformität besetzt. Tatsächlich hat die KPC die Äusserung von Meinungen, die im Widerspruch zur Haltung der obersten Führung stehen, zur Straftat erklärt. Dieses Delikt – im Chinesischen als «wangyi zhongyang» («leichtfertig geäusserte Ansichten über die Politik der Parteizentrale») bezeichnet – spielte in Xis Bekämpfung der offiziellen Korruption in den vergangenen Jahren wahrscheinlich eine grössere Rolle als tatsächliche Verfehlungen.

Der daraus resultierende Mangel an konstruktiver Opposition bedeutet, dass übermässig riskante oder unausgegorene Ideen in Xis China zur nationalen politischen Strategie erhoben werden konnten. So geschah es auch: Aufgrund unzureichender interner Debatten unterliefen China in den vergangenen fünf Jahren mehrere schwerwiegende politische Fehler.

Einer dieser Fehler bestand in der im Sommer 2015 voreilig getroffenen Entscheidung, öffentliche Mittel zur Stützung der Aktienkurse einzusetzen, als die Märkte einbrachen. Doch die Kurse konnten damit nicht stabilisiert werden, man verschwendete Billionen Renminbi und schwächte die Glaubwürdigkeit der neuen chinesischen Führung.

Misstrauen im Ausland

Ein weiterer grosser politischer Fehler waren der Bau künstlicher Inseln im Südchinesischen Meer und die anschliessende Errichtung militärischer Anlagen auf diesen Inseln. Manchen in der Regierung Xi ist das vielleicht als kluger strategischer Schachzug erschienen. Doch weil Peking damit den Eindruck erweckte, es beabsichtige, mit Gewalt die Vorherrschaft in Ostasien zu erreichen, erwies sich diese Vorgehensweise als ein bedeutender Faktor, der zur rapiden Verschlechterung der Beziehungen zwischen China und den USA beitrug.

Mit  geplanten Infrastrukturinvestitionen im Ausmass von über 1 Bio. $ in Eurasien und darüber hinaus erregte auch die überaus umfangreiche Seidenstrasseninitiative Xis, abgesehen von ihrer wirtschaftlichen Zweifelhaftigkeit, den Argwohn des Westens hinsichtlich der geopolitischen Agenda Chinas. Dieser Fehler belastet letzten Endes nicht nur Chinas Beziehungen zu den USA, sondern auch zu den wichtigsten Verbündeten, die Chinas Engagement in Entwicklungsländern – und damit ihre eigenen Beziehungen zu China – mit zunehmendem Unbehagen betrachten.

Wenn die KPC weiterhin an ihrer zentralisierten Entscheidungsfindung festhält, wird es wahrscheinlicher, dass weitere – noch verhängnisvollere – Fehler folgen. Die chinesische Führung könnte beispielsweise einen Angriff auf Taiwan beschliessen und damit einen katastrophalen Krieg gegen die USA riskieren. In einer derartigen Situation kann man nur hoffen, dass es irgendwo in der Regierung noch mutige Menschen wie Lou gibt, die bereit sind, aufzustehen und ihren Widerspruch zu artikulieren.

Copyright: Project Syndicate.