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Genius Loci: Der Geist des Ortes

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Das Haus Palmyra steht in einer Kokosplantage nahe Bombay. Studio Mumbai Architects.
Forsthaus in Domat/Ems im Kanton Graubünden, von Gion Caminada.
Innenraum im Forsthaus.

Im Studio Mumbai sitzt niemand vor dem Computer. Architekten, Zimmerleute, Maurer, Schreiner sind im permanenten Austausch, teilen Erfahrungen und loten Ideen aus, indem sie von Hand Modelle und Prototypen anfertigen. Hier wird auf brillante Art Tradition mit Modernität verbunden, der Reichtum indischer Handwerkskunst ist die Basis dieser sehr modernen, überlegten und kompromisslosen Architektur.

Nach der Ausbildung in den USA und Europa kehrt Bijoy Jain 1995 nach Mumbay zurück und gründet das Architekturbüro Studio Mumbai. Eine interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft analysiert bei jedem Vorhaben die Örtlichkeiten und lässt sich von traditionellen Bautechniken und Materialien inspirieren.

Die Projekte entstehen im kollektiven Dialog und im Austausch von Erfahrungen und Wissen. Indien ist reich an unzähligen Handwerksberufen und Kompetenzen im Bauwesen die, so Bijoy Jain, jetzt in die Architektur einbezogen werden müssen.

Viele tausend Kilometer entfernt, in Graubünden, lebt Gion Caminada, der als ein Vertreter der ruralen und lokalen Architektur hohes Ansehen geniesst. Er pflegt engen Kontakt mit den Bauherren, den Bauern, und er engagiert sich stark für Landschaftsschutz und Verdichtung von Strukturen, um die Zersiedelung im Tal zu verhindern.

Die meisten seiner Realisationen befinden sich in Vrin, wo er mit beschränkten Mitteln für und mit der Gemeinschaft arbeitet. Dies entspricht seinem persönlichen Konzept des Architektenberufs: die Pflege einer intensiven, ja emotionalen Beziehung zum zu bebauenden Land und den dortigen Menschen. Caminada denkt lokal mit Blick auf die Welt, er lebt in seinem Heimatdorf und in Zürich, wo er an der ETH lehrt.

Unbeeinflusst von Modeerscheinungen glaubt der Bündner seit jeher an Ideen, die im Kollektiv entwickelt werden. «Architektur muss sich in eine post- ästhetische Richtung entwickeln und den Benutzern ermöglichen, wieder Besitz von ihrer Umwelt zu nehmen.» Der Architekt arbeitet ausschliesslich mit lokalen Materialien und wendet die regionale Blockbauweise «Strick» an, bei der Holzbalken fassadenlang zu tragenden Wandkonstruktionen geschichtet werden.

Ein «Strickwerk» sind auch die Beziehungen zu den lokalen Unternehmen , was nicht möglich wäre, würden die Materialien importiert. Das Knowhow der Handwerker vor Ort wird der Industrie vorgezogen, und es ist auch diese Nähe, die sparsames Bauen ermöglicht. Zurzeit ist in Graubünden ein Ausbildungszyklus in Vorbereitung mit dem Ziel, Bauhandwerker für ihre Aktivitäten zu sensibilisieren und kostbare Metiers zu bewahren.

Symbiose zwischen Umwelt und Bau

Diese Beziehung Mensch–Natur sowie das Konzept «Genius loci» (Geist des Ortes) ist seit jeher auch das Anliegen des Studio Mumbai, das seit seiner Teilnahme an der Architekturbiennale 2010 in Venedig Weltruf erlangt hat. «Die Architektur braucht andere als industrielle Materialien, und auch die Industrie interessiert sich für diese Art Rohstoffe», bestätigt Cyril Veillon, Direktor von Archizoom der École polytechnique Fédérale de Lausanne EPFL.

Dazu kommt, dass Indien und Afrika jene Regionen sind, wo in den nächsten Jahrzehnten am meisten gebaut wird. Transporte belasten den CO2-Ausstoss massiv, weshalb lokale Baustoffe immer begehrter werden. «Um den Herausforderungen der immer begrenzteren Ressourcen zu begegnen, beweisen die Projekte des Studio Mumbai grossen Einfallsreichtum», so Professor Harry Gugger von der EPFL.

Er ist überzeugt, dass dieser Ansatz immer wichtiger wird und auch in Grossprojekten erfolgreich angewendet kann, zumal die Zukunft von der Verknappung der Ressourcen geprägt sein wird» (aus «Workplace Studio Mumbai», Editions Archizoom, 2011).

Ist die Vorgehensweise von Caminada ein Einzelfall und das Studio Mumbai eine indische Besonderheit?

Das vor kurzem auf dem Campus der EPFL eingeweihte Gebäude ArtLab mit dem riesigen Satteldach trägt die Handschrift des berühmten japanischen Architekten Kengo Kuma, dessen Büros in Tokio und Paris mehr als hundert Architekten beschäftigen. Er glaubt an die Weisheit der Handwerker und versucht, stets lokale Elemente in seine Projekte zu integrieren.

Der Atomunfall von Fukushima hat die Grenzen der «massiven und soliden» Architektur aufgezeigt. Weder Beton noch Stahl blieben von Verstrahlung verschont. Dieser Bauformenüberdrüssig , konzipierte er bescheidenere Bauwerke. «Diese Projekte ermöglichten eine autonome Arbeit mit lokalen Materialien, die ausschliesslich von der Natur und der Kraft des Ortes geprägt sind – Genius loci.

Er ist überzeugt, dass die Umwelt im Vergleich zur Architektur sehr stark ist. Weder konservativ noch bewahrend, glaubt er an die Verbindung von traditionellen mit modernen Techniken. Wie Kengo Kuma, der im 21. Jahrhundert die Traditionen der japanischen und asiatischen Bauweise neu interpretieren möchte, bestätigt Bijoy Jain ohne falsche Nostalgie, dass «ihn die Vergangenheit interessiert , weil bestimmte Baumethoden viel effektiver waren, als sie es heute oft sind.»

Im Bündnerland engagiert sich Gion Caminada für eine dauerhafte Architektur, die manchmal auf alten Techniken basiert, indem Charakteristiken und Spezifitäten jedes Ortes einbezogen werden. «Das Projekt, das sich mit der Identität eines Ortes auseinandersetzt, erhält nicht nur eine ästhetische Bedeutung, sondern erfüllt ein tiefes menschliches Bedürfnis.» Fazit: Diese Rückkehr zu den Ursprüngen und dem eigentlichen Wesen der Architektur hat nichts Altmodisches. Sie ist, im Gegenteil, entschieden modern.