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Der erste moderne Mensch

Kein Geringerer als der grosse Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt nannte ihn «einen der frühsten völlig modernen Menschen»: den aus der Toskana stammenden Dichter und Geschichtsschreiber Francesco Petrarca. Der bestieg am 26. April 1336 den Mont Ventoux, der mit seinen 1912 Metern eine famose Rundsicht auf die Provence bietet. Diese Kletterpartie war für damalige Zeiten etwas Unerhörtes. Im Mittelalter galt die physische Welt, das Hienieden, als menschenfeindlicher Ort, bloss als Zwischenstation ohne eigenen Wert auf dem Weg ins Jenseits.

Petrarca hingegen betrachtete die Landschaft so, wie sie sich ihm darbot, und «der Anblick der Natur traf ihn unmittelbar», wie Burckhardt es fasst. Er gehörte zu den Ersten, die Naturgenuss und geistige Beschäftigung, Ästhetik und Kontemplation miteinander verbanden. Der «Vater der Bergsteiger» konnte nicht ahnen, dass er gerade mit der Tour auf den Mont Ventoux dazu beitrug, der abendländischen Menschheit den Weg aus dem «Mittelalter» in die «Neuzeit» zu weisen.

In einem auf Latein verfassten Brief an einen anderen Frühhumanisten beschrieb Petrarca dieses Erlebnis und wie er auf dem Gipfel zu einer Schrift des Kirchenvaters Augustinus gegriffen und diese Zeilen gelesen habe: «Und da gehen die Menschen hin und bewundern hohe Berge und weite Meeresfluten und mächtig daherrauschende Ströme und den Ozean und den Lauf der Gestirne und verlassen sich selbst darob.» Das Erlebnis der Natur fällt zusammen mit der Rückwendung auf das Selbst, ähnlich wie viel später bei Jean-Jacques Rousseau.

Darin lässt sich ein kulturhistorisches Schlüsselereignis sehen. Nun rückt der Mensch mit seinem subjektiven Erleben der realen Umwelt in den Mittelpunkt – die mittelalterliche Ausrichtung allein auf den umfassenden Willen Gottes erhält Konkurrenz. Es setzt ein neues Natur- und Weltbewusstsein ein, eine Weltneugier. Dass an Petrarcas Ausflug bzw. an seiner Darstellung wissenschaftliche Zweifel bestehen, ändert daran nichts.

Petrarca war einer der grossen Köpfe der italienischen Renaissance. Und die war nur auf den ersten Blick eine Wiedergeburt der Antike. Vielmehr war sie etwas völlig Neues und markierte den Aufbruch in die Moderne. Zwar befasste sich Petrarca mit Schriften des lateinischen (nicht aber des griechischen) Altertums, vor allem mit Cicero, doch bahnbrechend wurde er durch Neuschöpfungen: Er schrieb die ersten grossen Liebesgedichte in italienischer Sprache, er schuf die Form des Sonetts. Petrarca war der erste Poet des Weltschmerzes, einer gänzlich neuartigen Empfindung, die der Antike fremd war. Verse wie dieser könnten aus dem 19. Jahrhundert stammen:

«Vom Schmerze leb’ ich, lache bei der Träne

Gleich schrecklich ist mir Leben, ist mir Sterben

So ist durch dich, o Laura, jetzt mein Leben.»

Und schliesslich entdeckte er eben den romantischen Reiz der Natur, wofür weder Griechen noch Römer etwas übriggehabt hatten. Modern war Petrarca auch in seiner Widersprüchlichkeit – Lebenslauf und Dichtung standen keineswegs in Einklang. Er betete in seinen Versen die Geliebte Laura an, hatte aber etliche Affären; er schwärmte für Weltflucht und einfaches Leben, bemühte sich jedoch, Pfründen zu ergattern; er behauptete, weltlichen Ruhm zu verachten, betrieb jedoch seine Krönung zum «poeta laureatus». Die dann auch prompt 1341 auf dem Kapitol zu Rom erfolgte: Schon damals erhielten melancholische Sänger so etwas wie einen Nobelpreis.