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Fakten statt Fakes

Deutschland eilt makroökonomisch von Rekord zu Rekord. Die Beschäftigung ist höher, die Arbeitslosenrate geringer als jemals zuvor seit der Wiedervereinigung. Ende Oktober waren erstmals überhaupt weniger als 5% aller Erwerbspersonen ohne Arbeit. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) erreicht einen Höchststand und liegt real 15% höher als unmittelbar nach der Finanzmarktkrise von 2009.

Seit damals folgten ohne jeglichen Einbruch neun Jahre Wirtschaftswachstum – was eine der längsten Aufschwungsphasen der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderlandzeit darstellt. Seit dem Frühjahr 2013 und nunmehr 22 Quartalen gab es keine Rezession mehr, und ein Ende der positiven Weiterentwicklung ist nicht in Sicht, auch das ist für das wiedervereinigte Deutschland ein Spitzenwert.

Schliesslich ist auch die Preisstabilität gesichert. Die Verbraucherpreise sind seit 2010 bis Herbst 2018 insgesamt um gerade einmal 11,4% gestiegen. Die jährliche Inflationsrate in den neun Jahren seit der Finanzmarktkrise lag bei durchschnittlich 1,2% und damit weit weg von Preissteigerungen, die auf makroökonomisch unerwünschte Folgeeffekte hindeuten. Auch da gibt es also keinen wirklichen Grund für Sorge.

In jeder anderen Volkswirtschaft als Deutschland wäre die Bevölkerung mit einer derartig rundum positiven Bilanz beim magischen Dreieck der Makroökonomie mehr als zufrieden. «It’s the economy, stupid», würden US-Präsidenten das Volk wissen lassen und bei solchen Erfolgszahlen auf (Wieder-)Wahl hoffen dürfen. Nicht so in Deutschland. Da wird die grosse Koalition aus Union und Sozialdemokraten von der Bevölkerung an der Urne abgestraft, erst in Bayern und nun in Hessen. Am Ende muss eine zermürbte Bundeskanzlerin Angela Merkel sogar ihren  schrittweisen Rücktritt erklären – wenn auch vorerst lediglich vom Parteivorsitz.

Die «deutsche Angst» ist wieder da

Offenbar können auch beste makroökonomische Ergebnisse den in Deutschland grassierenden Pessimismus nicht bändigen. Die «German Angst» ist zurück: Ein Blick auf die Titelseiten führender deutscher Medien veranschaulicht eine den makroökonomischen Daten diametral widersprechende Neigung, einen ökonomischen Untergang herbeizureden, für den es objektiv gesehen nicht die geringsten Anhaltspunkte gibt. Fakes statt Facts dominieren Stimmung und Lebensgefühl.

Das Magazin «Der Spiegel» überschreibt seinen Abgesang auf Deutschland mit «Es war einmal ein starkes Land» und lässt als symbolisches Zeichen der Dramatik das erste Mal in seiner über siebzigjährigen Geschichte das unverwechselbare Spiegel-Logo vom oberen auf den unteren Rand des Titelblatts abschmieren. Titelte «Focus Money» Ende August noch: «Die Wahrheit wird Ihnen Angst machen – Warum die Welt vor dem grössten Wirtschaftscrash aller Zeiten steht», fand sich Anfang Oktober «Der Crash wird kommen!» auf der Titelseite. Eine Woche später folgte «Nach dem Crash – jetzt kaufen», und Ende Oktober wird nun behauptet «Der Euro wird platzen!». Die Medien spiegeln die Unsicherheit, das Unbehagen und die in der Gesellschaft über allem schwebende Sorge, dass Deutschland sich abschaffe.

Losgelöst von Fakten und aufgeheizt durch Crashpropheten und Einthemenparteien prägen Ängste und Nebensächlichkeiten die politische Diskussion. Die Flüchtlingsfrage hat jegliche Regierungsarbeit an Zukunftsthemen paralysiert. Die grosse Koalition hat monatelang erbittert über die Schuld an der Flüchtlingskrise von 2015 gestritten, obwohl bei einigermassen gutem Willen allerseits das Thema längst vom Tisch sein könnte. Denn mittlerweile dürfte das Migrationsthema allein durch die Kraft der Zahlen relativiert worden sein.

Klar geworden ist nämlich in den vergangenen Monaten, dass die ökonomischen Folgen der Zuwanderung für ein so grosses Land wie Deutschland mit einer Bevölkerung von über 80 Mio. Personen insgesamt masslos überschätzt und überbewertet wurden. Dem gesunden Menschenverstand in weiten Teilen der Wahlbevölkerung war längst bewusst, dass von beiden Seiten – Anhängern wie Gegnern von Grenzöffnung und Willkommenskultur – die an sich bescheidenen ökonomischen Effekte aus rein politischen Eigeninteressen aufgebauscht und instrumentalisiert worden waren.

Während in der Öffentlichkeit die Migrationsfrage an Bedeutung verloren hatte, blieb sie in der Politik und speziell innerhalb der grossen Koalition das alles dominierende Streitthema, das ein übers andere Mal für Krach sorgte und immer wieder zu Drohungen führte, die Zusammenarbeit zu beenden. Die Folge war ein Auseinanderdriften von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Während sich die makroökonomischen Daten unverändert günstig weiterentwickelten, gab die Politik ein Bild der Zerrüttung ab, das in der Bevölkerung den Eindruck vertiefte, Deutschland sei mehr oder weniger führungslos den Herausforderungen der Zukunft ausgeliefert, und die wichtigen Weichenstellungen würden verschlafen.

Ein Grossteil der Öffentlichkeit will ein Ende des Klein-Kleins um Nebensächlichkeiten. Vielen ist bewusst, dass für den künftigen Wohlstand in Deutschland ein Streit darüber, ob Asylsuchende in Transitzentren, Transitzonen oder Expresszentren festgehalten werden, bis abschliessend geprüft wurde, ob ihr Asylantrag in Deutschland oder anderswo bearbeitet werden muss, völlig unbedeutend ist.

Der gesunde Menschenverstand lässt die Bevölkerung ahnen, dass die Suche nach einer neuen Sicherheitsarchitektur ohne US-Schutzschild, der Kampf gegen Klimawandel, die sich öffnende Kluft zwischen Arm und Reich, die Chancen und die Risiken der Digitalisierung und die daraus notwendig werdende Modernisierung des Bildungswesens, die Folgen des demografischen Wandels mit der Alterung der Gesellschaft und dem dadurch steigenden Pflegebedarf und andere Herausforderungen die entscheidenden Zukunftsthemen sind. Bei den grossen Fragen aber finden sich bei den Regierungsparteien Leerstellen in Dimensionen, die tatsächlich erschrecken und Angst einflössen.

Unter der Berliner Käseglocke

In den Wahlergebnissen veranschaulicht sich, dass die Volksparteien das Volk verloren haben. Einmal, weil sie unter der Berliner Käseglocke die Öffentlichkeit nicht mehr intensiv genug spüren und sich lieber mit sich selbst beschäftigen, als die Themen aufzugreifen, die für die meisten Leute aktuell und relevant sind. Zudem spielt auch eine Rolle, dass es das «Volk» als einigermassen homogene Gesellschaft immer weniger gibt und geben wird.

Die zunehmende Vielfalt der Bevölkerung, die wachsenden Unterschiede zwischen Stadt und Land, Alten und Jungen, Personen mit oder ohne Migrationshintergrund, mit viel, wenig oder gar keinem Vermögen, hohem oder geringem Einkommen sowie die rasanten Veränderungen des strukturellen Wandels von einer Industrie- in eine Digitalisierungsgesellschaft machen es Volksparteien immer schwieriger, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Auch deshalb wird die Parteienwelt bunter, neue politische Bewegungen kommen hinzu.

Ob die grosse Koalition auch ohne die Bundeskanzlerin als CDU-Vorsitzende bis zum Ende der Legislatur durchhält, ob sie zerbricht und nun doch noch eine Jamaika-Koalition unter Einbezug der erfolgreichen Grünen und Liberalen nachfolgt oder ob es bald zu Neuwahlen kommt, ist momentan völlig offen.

Alles ist möglich, aber eines ist sicher: Mit einem «Weiter so wie bis anhin», mit ständigem Zwist und Streit und einer weiteren Vernachlässigung der wirklich wichtigen Zukunftsthemen wird der Pessimismus in Deutschland nicht ab-, sondern zunehmen. Dann aber droht als Folge einer eigendynamischen Abwärtsspirale eine sich selbst erfüllende Prognose einzutreten. Ohne Zwang und Notwendigkeit kann dann selbst aus einem ökonomisch blühenden Land ein Problemfall werden.

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