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Derivate: «Potenzial für Verbesserungen»

Marc Oliver Rieger: «Bei komplexen Strukturen bleiben die Kosten verborgen, selbst wenn es inzwischen Ansätze zur Transparenz gibt.»

Herr Rieger, der Markt für strukturierte Produkte hat nie mehr die Bedeutung erlangt wie vor dem Lehman-Kollaps, der doch schon sechs Jahre zurückliegt. Was ist der Grund? - Der Markt wird immer am Boom von damals gemessen. Zu wenig wird beachtet, dass viele Anleger in Produkten investiert waren, die sie besser gemieden hätten – teils auch nach zweifelhafter Beratung. Wenn bei einem Barrier Reverse Convertible ein bestimmter Zins versprochen wurde, und es ging schief, waren oft 40% des Geldes weg, bei Lehman-Produkten noch mehr. Da ist es verständlich, wenn jemand allergisch reagiert, sobald die Worte Barriere oder strukturierte Produkte fallen. Die Finanzkrise hat die Branche viele Kunden gekostet.

Vor acht Jahren ein Boom, vor sechs der Kater – was wird in sechs Jahren sein? - Kann sein, dass es wieder einmal einen Boom gibt. Wer schlechte Erfahrungen gemacht hat, vergisst es irgendwann. Auch kommen neue Anleger hinzu. Ich kann mir ausserdem vorstellen, dass neue Produkte kreiert werden, die spezifische Anwendungen erschliessen und damit den Markt wieder ein Stück voranbringen. Aber das ist die längerfristige Perspektive. Professionelle Investoren sind aktiv am Markt, Privatanleger halten sich momentan aber allgemein zurück.

Wären nach der kräftigen Anleihen- und Aktienhausse jetzt nicht Kapitalschutzprodukte besonders gefragt? - Im Prinzip ja, aber Kapitalschutzprodukte kann man nur dann attraktiv gestalten, wenn die Zinsen hoch sind, was derzeit nicht der Fall ist. Allein die Erwartung einer Zinswende reicht dafür nicht aus. Abgesehen davon ist der Zeitpunkt des Zinsumschwungs gerade in Europa völlig ungewiss.

Wie stark konkurrenziert der boomende ETF-Markt die strukturierten Produkte? - Wer heute in Aktien investieren will, hat mit ETF ein sehr transparentes und einfaches Produkt zur Hand. Als Basisportfolio reicht das schon mal aus. Strukturierte Produkte sind immer dann von Vorteil, wenn es um Spezialfälle geht. Man kann einen Basiswert erschliessen, auf den es noch keinen Fonds gibt. Oder man kann eine individuelle Renditeverteilung vornehmen, zum Beispiel mit Kapitalschutzprodukten, oder sich gegen steigende Hypothekarzinsen absichern. Das sind Spezialanwendungen, für die der ETF-Markt keine Lösung hat.

Ist die Beratung besser geworden? - Zweifellos. Anlageberater sind in der Regel nicht mehr überfordert wie teils noch vor der Finanzkrise. Aber auch sie sind vorsichtiger geworden.

In der Schweiz bewegt sich der Anteil der Derivate in den Depots der Banken seit der Finanzkrise unter 4% – zu mager aus Branchensicht. Was kann sie tun, um das Anlagevolumen zu steigern? - Einerseits, mit Blick auf das Niedrigzinsumfeld, ist die Branche machtlos. Das andere ist die Innovation. Zurzeit werden strukturierte Produkte noch häufig verkauft wie Schokolade: Man bietet etwas an, das möglichst vielen gefällt. Spezialanwendungen, gerade für die Absicherung von Risiken, verlangen einen massgeschneiderten Zuschnitt. Dazu ist eine enge Anbindung von Anlageberatung und Produktdesign notwendig, die es so noch immer zu wenig gibt. Da müssen beide Teile noch näher zusammenrücken, organisatorische und strukturelle Hürden hin oder her.

Da Sie für Spezialanwendungen plädieren: Ist das Potenzial für Standardprodukte ausgeschöpft? - Standardprodukte richten sich primär an Retailanleger. Das ist gut und recht so. Nur sollten sich Privatinvestoren nicht einfach auf den Slogan verlassen, wonach es für jede Marktsituation das entsprechende Produkt gibt. Das impliziert, dass ich als Anleger die Marktlage antizipieren muss, was in 99 von 100 Fällen auf Dauer nicht gelingt. Dann sind wir bei der Spekulation. Strukturierte Produkte sind in anderen Situationen sinnvoll, etwa wenn ich vor einer Aktienanlage wegen des Verlustpotenzials zurückschrecke. Mit einem Kapitalschutzprodukt kann ich es minimieren und gleichwohl, wenigstens bis zu einem gewissen Punkt, an der Aufwärtsbewegung teilhaben. Solche Lösungen sind auch bei Niedrigzinsen möglich, wenn man keinen 100%igen Kapitalschutz verlangt. Der Investor spekuliert dann nicht auf die Zukunft, sondern stellt sein Risiko besser ein, als wenn er einfach einen Indexfonds kaufen würde.

Wie unterscheidet der Kunde zwischen gut und schlecht, zwischen Inhalt und Verpackung? - Am besten ist die Überlegung: Brauche ich ein strukturiertes Produkt, um mein Ziel zu erreichen, oder  reicht eine Direktanlage in den Basiswert und ist eventuell sogar besser? Die zweite Überlegung: Was kann bis zum Auszahlungstermin passieren, und wie schaut es bei Fälligkeit aus? Es braucht also eine Szenarienanalyse. Ist das Resultat positiv oder auch im ungünstigsten Fall akzeptabel und weniger schlecht als die Alternativen, steht einem Engagement nichts im Weg.  Wenn der Investor aber feststellt, dass da ein paar Ereignisse denkbar sind, die die Performance relativ zu anderen Anlagen klar verschlechtern, sollte er zusammen mit dem Berater nochmals über die Bücher gehen und allenfalls verzichten.

Wo gibt es noch Raum für Innovation? Ist der Markt nicht schon übersät mit Produkten? Man stelle sich nur die Vielzahl von Namen und Konzepten vor, mit denen Investoren, ob Retail oder Profi, bombardiert werden. - Ganz klar wimmelt es von Ideen. Viele werden  scheitern, weil sie entweder nicht ausgereift sind oder am Markt vorbeizielen. Trotzdem wird es versucht, weil im Voraus niemand genau weiss, was auf Interesse stossen wird. Ich verstehe Emittenten, die sagen, wir lancieren jetzt Produkte auf viele unterschiedliche Dinge – neue Basiswerte sind stets beliebt, sowie ab und an auch ganz abenteuerliche Konstruktionen –, und sei es auch nur, um die Konkurrenz zu beeindrucken oder zu kitzeln. Spielraum für Innovation sehe ich beim Hedging, bei der Risikoabsicherung: Jemand hat eine Immobilie gekauft und will sich vor einem Preisrückgang schützen. Einen Immobilienindex leer verkaufen ist als Idee einfach, ist in der Praxis aber kaum umzusetzen. Solche Konzepte reduzieren Risiken und sind nicht Standard, sondern massgeschneidert.

Und für den Emittenten profitabel. Oder sind es in der Summe die Standardprodukte, die die Kasse von Banken und Vermögensberatern füllen? - Empirische Studien zeigen: Je standardmässiger ein Produkt, desto grösser ist der Wettbewerb und umso kleiner die Marge. Wo Banken eine gute Marge verstecken können, ist bei komplexen Strukturen – irgendwelchen Multi Worst-of Basket Barrier Reverse Convertibles, eventuell noch mit exotischen Basiswerten angereichert, oder bei Twin-Win-Zertifikaten in unterschiedlichster Ausprägung. Da bleibt dem Kunden die Kostenstruktur verborgen, selbst wenn es inzwischen Ansätze zur Kostentransparenz gibt. Da ist der Spielraum für Verbesserungen noch gross.

In der Schweiz werden ab März 2015 die Vertriebsgebühren offengelegt, die Zürcher Kantonalbank weist eine Gesamtkostenquote, die Ter, aus, in Deutschland wird der Issuer Estimated Value IEV verlangt. Welcher Ansatz überzeugt? - Derivative Partners zum Beispiel hat ein Sternesystem: Wie gut ist das Pricing eines Produkts, also wie nah ist es am theoretischen Wert, woraus auf die Marge geschlossen werden kann? Der Issuer Estimated Value in Deutschland ist ebenfalls ein einigermassen zuverlässiger Indikator für die Preisattraktivität. Kostentransparenz ist allerdings sehr schwierig. Je nachdem, welches mathematische Modell zur Anwendung kommt, ist gerade bei komplexeren Strukturen das Resultat unterschiedlich. Damit bietet jede Zahl wieder eine Angriffsfläche. Das ist ein Grund, weshalb Emittenten zögerlich sind, die Kosten offenzulegen.

Strukturierte Produkte seien für Emittenten und Verkäufer eine Geldmaschine. Stimmt der Vorwurf? - Ich bin vorsichtig mit diesem Begriff. Kreditvergabe und Sparkonti sind in diesem Sinn auch Geldmaschinen. Geld verdienen ist ja nicht verwerflich. Leider gibt es Einzelfälle, wo man schon sagen muss, das ist jetzt Abzocke.

Gibt es Anhaltspunkte für Abzocke, worauf sollen Investoren schauen? - Bei Produkten etwa, die mit einem bestimmten Ereignis zusammenhängen und womöglich einen besonderen Bonus versprechen – je nach Ausgang der Fussball-WM zum Beispiel. Da ist höchstwahrscheinlich eine hohe Marge eingerechnet und mahnt den Käufer, zumindest nachzufragen, ob das Zertifikat nicht überzahlt wird.

Was halten Sie vom Entscheid der Emittenten in der Schweiz, die Vertriebsgebühr auszuweisen? - Generell ist jede Transparenz gut. Doch es kommen bei einem Zertifikat viele Dinge zusammen, die oft nicht so genau auseinanderzuhalten sind. Greift man nur die Vertriebskosten heraus, ist das für die Preisbeurteilung noch kein endgültiger Anhaltspunkt. Die Vertriebskosten können niedrig sein und das Produkt trotzdem teurer, weil es für den Emittenten eine höhere Sicherheitsmarge aufweist. So hat der Kunde noch nichts gewonnen. Einen Fair Value – einen fairen Wert im Verhältnis zum Ausgabepreis – anzugeben, wäre im Prinzip sinnvoller für den Investor.

Wird das praktiziert? - So direkt nicht oder noch nicht – aus Gründen der Modelle, die unterschiedlich sind. Aber es geht in diese Richtung, auch wenn wir noch nicht da sind.

Der Regulator ist auf verschiedenen Ebenen aktiv. Ein Ziel ist verbesserter Anlegerschutz. Hilft dabei die Pflicht, das Beratungsgespräch zu protokollieren? - Ich bezweifle, dass die Beratung deshalb besser wird. Durch die Dokumentationspflicht wird sie immer mehr standardisiert und verliert an Gehalt. Wenn der Berater fürchten muss, einen Fehler zu machen, verzichtet er womöglich darauf, ein Produkt zu erklären, selbst wenn es für den Kunden geeignet wäre. Als Professor bin ich auch froh, dass meine Vorlesungen nicht aufgezeichnet werden, sonst laufe ich bei jedem Witz oder jeder Nebenbemerkung Gefahr, dass das jetzt nicht perfekt oder sogar falsch war.

Wie könnte die nächste Krise aussehen, und was ist die Achillesferse der strukturierten Produkte? - Eine gewisse Gefahr sehe ich bei den sogenannten Stability Notes und ähnlichen Produkten. Ebenso bei bestimmten Staatsanleihen, nachdem die Renditen und die Zinsdifferenzen so kräftig geschmolzen sind, Staatspapiere aber im Grunde einen festen Zins und Sicherheit versprechen. Ein anderes Thema sind Bonusanleihen, die einen etwas höheren Zins aufweisen, aber ein Ausfallrisiko von mehreren Schuldnern bergen. Die wachsende Beliebtheit dieser Papiere stellt ein gewisses Enttäuschungspotenzial dar.

Wie virulent ist das Emittentenrisiko heute? - Cosi-Produkte, also pfandbesicherte Zertifikate, wie sie in der Schweiz geschaffen wurden, sind noch nicht Standard. Es gibt sie auch in Deutschland, die Nachfrage ist allerdings nicht so gross, wie es nach Lehman vermutet werden könnte. Wenn die Zinsen höher wären, würden Anleger einen gewissen Renditeabschlag zugunsten von mehr Sicherheit akzeptieren. Aber zurzeit geht der Trend eher dahin, auf der Suche nach Rendite Zusatzrisiken in Kauf zu nehmen.

Sie sind Mathematiker. Was fasziniert einen Naturwissenschaftler, der mit klaren Strukturen und Theorien umzugehen gewohnt ist, an der heterogenen und sich immer wieder verändernden Finanzwirtschaft? - In der Finanzwirtschaft und besonders beim Anlegen geht es letztlich immer ums Resultat. Deshalb eignet sich die Mathematik durchaus, um das Thema zu konkretisieren und zu analysieren. Dass es eine grosse Herausforderung ist, macht es nur umso spannender.

Sollte dann nicht auch die Trefferquote im Anlagesektor besser sein? - Die Trefferquote ist dann gut, wenn man bescheiden bleibt und sagt, ich schaue mir nur an, was ich auch berechnen kann, zum Beispiel: Wie teuer sollte ein strukturiertes Produkt sein, unter welchen Bedingungen ist es für Anleger interessant? Da gibt es klare Aussagen, auch negative, wo man feststellen muss: Hier werden Investoren nur von einem unverfrorenen Verkäufer zum Kauf bewogen.