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Eine Analyse der Deglobalisierung

Angesichts der aggressiven Rhetorik, die US-Präsident Donald Trump und seine Berater zu Handel und Einwanderung anstimmen, stellt sich die Frage, ob unser modernes Zeitalter der Globalisierung bereits zu Ende geht. Ist dies der Fall, stellt sich die noch drängendere Frage, ob dieses Ende von Gewalt begleitet sein wird.

Die Aktienmärkte werden immer nervöser, weil sich die Marktteilnehmer an andere Zeiten erinnern, in denen die internationale wirtschaftliche Integration den Rückwärtsgang eingelegt hat. Neue Handelskriege oder Militärkonflikte könnten die komplexen Handelsverbindungen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unseren Wohlstand sichern, erheblich gefährden.

In früheren Zeiten der Deglobalisierung wurde der Fluss des Handels, der Finanzen und der Menschen, der zuvor die Länder miteinander verbunden hatte, durch katastrophale Ereignisse wie den Ersten Weltkrieg oder den Finanzcrash von 1929 unterbrochen. Eine Begleiterscheinung dieser Krisen war, dass die Themen wie Nationalität und Bürgerschaft in den Mittelpunkt des politischen und sozialen Lebens rückten.

Angst, Misstrauen und Anomie

Ähnliche Muster von Rückschlag und Auflösung gab es bereits früher in der Geschichte: Das Ende des Römischen Reiches und der Zerfall der ostchinesischen Han-Dynastie sind nur zwei Beispiele dafür. Einige Historiker betrachten sogar die amerikanische und die Französische Revolution als Deglobalisierungsereignisse. Die amerikanischen Revolutionäre lehnten Fremdherrschaft und Aussenhandel ab, und ihre französischen Kollegen zerstörten die europäischen Allianzen der Bourbonen. In beiden Fällen führten die Revolutionäre auch neue Bürgerrechte ein.

Es scheint so, dass auch die heutige politische Gesellschaft zur Deglobalisierung neigt. Historisch gesehen wird eine solche Tendenz dadurch ausgelöst, dass sich die emotionale Balance einer Gesellschaft verändert. Soziale Unruhen bringen oft neue Führungspersönlichkeiten hervor, deren Regierungsmentalität übereilte, kurzsichtige, inkonsequente und auch in sonstiger Hinsicht schlechte Entscheidungen zur Folge hat. Wenn schlechte Entscheidungen in einem Land auch auf andere Länder negative Auswirkungen haben, können sie einen Teufelskreis von Vergeltung und Eskalierung auslösen.

Im 20. Jahrhundert wurden die Reaktionen gegen die Globalisierung vor allem von drei miteinander verbundenen Emotionen begleitet: Angst, Misstrauen und Anomie (Fehlen sozialer Normen). Wenn eine Gesellschaft sich über mögliche finanzielle Verluste sorgt oder durch andere Länder bedroht fühlt, spiegelt dies meist tiefere Ängste angesichts einer sich ständig verändernden Welt.

Gier und Überschwang

In den Achtzigern führte der Finanzanalyst James Montier einen «Angst und Gier»-Index ein, der auf der Annahme beruht, dass das Marktsentiment ausschliesslich durch das Zusammenspiel von Gier und Angst bestimmt wird. Montiers zentrale Einsicht war, dass mit dem Ausmass der in den Märkten sichtbaren Gier auch das Angstpotenzial steigt. Angst ist damit die historisch festgelegte Folge von Gier, ebenso wie der Tod in der christlichen Theologie die Folge der Sünde ist.

Wir sollten uns daran erinnern, dass die grössten militärischen Konflikte des 20. Jahrhunderts immer auf Finanzkrisen folgten, denen wiederum Phasen extremen Überschwangs vorangingen. Der Crash von 1907 ging dem Ersten Weltkrieg voraus, und der Zweite Weltkrieg folgte auf den Crash von 1929, die europäische Bankenkrise von 1931 und die Grosse Depression.

Die zweite Emotion, die hinter der Deglobalisierung steckt, ist Misstrauen, das ein schlechter Ratgeber ist. So wie es Elvis Presley in seinem berühmten Songtext ausdrückte: «We can’t go on together / With suspicious minds / And we can’t build our dreams / On suspicious minds.» (Mit Misstrauen können wir nicht gemeinsam gehen, und auf Misstrauen können wir unsere Träume nicht aufbauen.)

Werte und Identität

Diejenigen, die aus einer Finanzkrise als Sieger hervorgehen, werden oft auch als Übeltäter betrachtet. Manchmal richtet die Öffentlichkeit dabei ihren Zorn auf ein anderes Land. Aber oft nimmt sie auch ethnische Minderheiten oder soziale Gruppen wie die Finanzelite ins Visier. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab man meist den Juden die Schuld, während nach der asiatischen Finanzkrise von 1997 die chinesischen Händler auf den Philippinen, in Malaysia und in Indonesien als Sündenbock dienen mussten.

Auch Sicherheitsbedenken können zu verstärktem Misstrauen führen. Vor dem Ersten Weltkrieg hielten viele Londoner die deutschen Restaurantkellner für Spione – was einige von ihnen zweifellos auch waren. Heute haben viele Europäer mehr Angst vor Flüchtlingen und der Radikalisierung der islamischen Gemeinden, als es durch die tatsächliche Bedrohung gerechtfertigt ist.

Angst und Misstrauen wachsen, wenn der Globalisierungsprozess zentrale Werte, Identifikationsquellen (wie traditionelle Berufe) und Lebensweisen untergräbt. In den hoch entwickelten Industrieländern wird die Reaktion gegen Einwanderung und Welthandel oft als die «Rettung» von Arbeitsplätzen oder die Entschädigung der «Verlierer» der Globalisierung verkauft. Aber in beiden Fällen wird dabei die Tatsache ignoriert, dass es keine angemessenen neuen Jobs gibt, die als Bedeutungs- und Identifikationsquelle dienen könnten.

Würde und Sinnhaftigkeit

Dieses Problem reicht mindestens bis in die Zeit der Massenindustrialisierung des 19. Jahrhunderts zurück. Fjodor Dostojewski eröffnete seinen Klassiker von 1862 über das Leben im Gefängnis, «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus», mit einem Lobgesang auf die Bedeutung der Arbeit – sogar für die Insassen einer sibirischen Strafkolonie. Er beobachtete, dass gewöhnliche Arbeiten wie die Herstellung eines Produkts oder sogar das Säubern eines Raums ein Gefühl für den eigenen Selbstwert vermitteln können. Aber die sinnlosen Pflichten der Gefangenen – wie das Ausheben und Zuschütten von Löchern – bewirkten das Gegenteil: Sie waren dazu gedacht, ihre Würde zu zerstören und ihr Selbstgefühl zu vernichten.

Die Geschichte zeigt, dass zur Bewältigung der emotionalen Wurzeln der Deglobalisierung ein enormer Akt sozialer Imagination erforderlich ist. Unsere Aufgabe besteht in nicht weniger als der Herstellung eines universalen Gefühls menschlicher Würde und Sinnhaftigkeit.

Die Finanzflüsse sind heute geringer als vor der Finanzkrise von 2008, und erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ist der internationale Handel nach 2014 weniger stark gewachsen als die Produktion. Trotz Projekten wie der chinesischen «Gürtel und Strasse»-Initiative, die durch Infrastruktur und Investitionen eine Brücke zwischen Europa und Asien schlagen soll, ist es denkbar, dass die Welt bei den Geldflüssen, dem Aussenhandel und vielleicht auch bei der Globalisierung ihren Höhepunkt bereits überschritten hat.

Das Paradoxon der digitalen Globalisierung

Aber es gibt einen grossen Bereich der internationalen Verbindungen, der keine Anzeichen von Rückgang aufweist: den Austausch von Informationen. Die globalen Datenströme, die immer stärker an der Wirtschaftsleistung beteiligt sind, werden weiterhin wachsen.

Doch kann die digitale Globalisierung auch neue Quellen von Bedeutsamkeit schaffen? Experimentelle Künstler und Experten für soziale Medien würden dies wahrscheinlich bejahen. Hat die neue Verbundenheit aber den paradoxen Effekt, die Menschen isolierter zu machen und voneinander zu entfremden, werden sich diese Menschen auf alte, illusionäre Sicherheiten stützen und von der Globalisierung abwenden.

Copyright: Project Syndicate.