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«Ein stabiles Finanzsystem ist keine Utopie»

Jean-Pierre Danthine.

«Meine bald zu Ende gehende Amtszeit bei der SNB war geprägt von erheblichen Abweichungen vom geldpolitischen Lehrbuch», sagte Jean-Pierre Danthine, Vizepräsident des Direktoriums der Schweizerischen Nationalbank (SNB), am Dienstagabend in Genf. Dort war er zu Gast beim Swiss Finance Institute. Danthine tritt per Ende Juni in den Ruhestand. Neu zum dreiköpfigen Direktorium stösst dann Andréa Maechler, sie arbeitet derzeit beim Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington.

Danthine relativiert vier Fiktionen der Schweizer Geldpolitik, indem er ihnen Tatsachen gegenüberstellt. Er erläutert die Negativzinsen, die aufgeblähte Bilanz der SNB, die vermeintlich unbegrenzte Macht der Währungshüter und die Finanzstabilität, die keine Utopie sei, sondern sich mit geeigneten Vorsichtsmassnahmen durchaus verwirklichen lasse.

Erste Fiktion: die unmöglichen Negativzinsen

Die erste Fiktion lautete, nominale Zinsen könnten nicht negativ werden, wegen der Nullzinsgrenze – des sogenannten Zero Lower Bound. Diese Theorie ist in der Praxis bereits widerlegt durch die negativen Leitzinsen der SNB, ebenso wie der Zentralbanken in Dänemark und Schweden.

Danthine erklärt, auf den ersten Blick widersprächen Negativzinsen der Vorstellung, dass Ersparnisse belohnt werden müssen. «Diese Ansicht ist jedoch irreführend.» Der Zins spiegle den Preis für den heutigen Konsum im Vergleich zum künftigen Konsum. Er sei ein relativer Preis. «Es ist daher nicht völlig undenkbar, dass der Konsum von morgen wertvoller sein kann als derjenige von heute.»

Negativzinsen seien jedoch nicht typisch für einen normalen Wirtschaftsgang. In normalen Zeiten werde der traditionelle Aussenhandelsüberschuss der Schweiz – und damit der Kapitalzufluss aus dem Exportgeschäft – kompensiert: Hiesige Investoren und Unternehmen legen Geld im Ausland an. Ein Anreiz für diese Investitionen sei das üblicherweise tiefere Zinsniveau in der Schweiz. In einem Umfeld solcher Kapitalflüsse sei der Franken tendenziell stabil.

Der Schweizer Zinsmalus ist notwendig

Der Zinsunterschied sei aber wegen der international weit verbreiteten Nullzinspolitik fast verschwunden, stellt Danthine fest. Das früher günstige Gleichgewicht sei gefährdet: Der Aussenhandelsüberschuss und damit die Exporteinnahmen bleiben bestehen, aber die Auslandinvestitionen nehmen ab. Fliesst somit weniger Geld ins Ausland, erstarkt der Franken.

Die SNB versucht, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Danthine resümiert: «Im aktuellen weltweiten Nullzinsumfeld ist die Erhebung von Negativzinsen daher geldpolitisch notwendig, damit wieder ein nennenswerter Zinsunterschied gegenüber den bedeutenden Volkswirtschaften geschaffen werden kann.»

Die Negativzinspolitik sei jedoch mit schädlichen Nebenwirkungen verbunden. «Dies gilt namentlich für die Finanzstabilität und die effiziente Verwendung von Kapital, um nur zwei kritische Bereiche zu nennen.» Dieses geldpolitische Instrument müsse deshalb vorsichtig eingesetzt werden.

Zweite Fiktion: die unendliche Bilanz

Statt mit Negativzinsen den Unterschied zu den Nullzinsen im Ausland wiederherzustellen, könnte die SNB den Franken direkt schwächen, über Interventionen am Devisenmarkt. Dazu muss sie Franken neu schaffen und verkaufen respektive Fremdwährungen kaufen, wodurch ihre Bilanz wächst.

Dies führt zur zweiten Fiktion, die lautet: Eine unbegrenzte Erhöhung der SNB-Bilanz ist risikolos. «Diese Fiktion widerspricht dem gesunden Menschenverstand und ist vor allem in Akademikerkreisen anzutreffen», kritisiert Danthine, der notabene selbst Akademiker ist.

Künftiger Inflationsgefahr begegnen

Eine grosse Bilanzausweitung berge grosse Risiken. Konkret trage die SNB auf dem Devisenbestand ein Wechselkursrisiko. Zudem bedinge eine geldpolitische Normalisierung in der Zukunft einen Abbau der Überschussliquidität – will heissen: Die für die Devisenmarktinterventionen neu geschaffenen Franken müssen wieder eingesammelt werden.

Das sei nötig, um allfällige Inflationsrisiken einzudämmen. Danthine erinnert daran, dass die SNB-Bilanz eine Grösse aufweist, die mehr als 90% des BIP beträgt. So betrachtet verfüge die SNB bereits heute über die grösste Bilanz aller wichtigen Zentralbanken.

«Während die technischen Mittel zur Abschöpfung auch grosser Mengen von Liquidität zur Verfügung stehen, hätte uns eine weitere Expansion in völlig unbekanntes Gebiet geführt», warnt Danthine. Eine Normalisierung der Geldpolitik mit einer Bilanz, die sich auf ein Mehrfaches des BIP beläuft, sei bisher noch nie durchgeführt worden und «dürfte alles andere als ein Spaziergang sein». Ein Ausstieg, der nicht optimal kontrolliert werden könne, berge erhebliche Risiken für die Preisstabilität und könnte mit geldpolitischen Ausschlägen verbunden sein, die sich für die Schweizer Volkswirtschaft als äusserst kostspielig erweisen dürften.

Dritte Fiktion: die unbegrenzte Macht

Die dritte Fiktion besteht darin, dass Notenbanken über unbegrenzte Macht verfügen. Ein Grund für diese Meinung ist gemäss Danthine, dass Zentralbanken die alleinige Lizenz zum «Gelddrucken» haben. Dazu komme die Ansicht, dass ihre Unabhängigkeit sie vor demokratischer Kontrolle schütze.

Während es gute Gründe dafür gebe, das Führen der Geldpolitik einer unabhängigen Zentralbank zu übertragen, dürfe die Tatsache nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Unabhängigkeit der SNB mitnichten unbegrenzt sei. Vielmehr verfüge die Schweiz über ein gut ausgebildetes System der Gewaltenteilung, das die SNB dazu verpflichtet, über ihre Entscheidungen transparent Rechenschaft abzulegen.

Die SNB muss sich besser erklären

Mit der Krise habe sich das Informationsbedürfnis der Behörden, der Öffentlichkeit und der Finanzmärkte deutlich vergrössert. Dies erfordere vonseiten der SNB mehr Erklärungen und eine erhöhte Transparenz. «Wir sind uns dieses berechtigten Anliegens vollkommen bewusst und haben auf verschiedenen Ebenen gehandelt.» Als Beispiele nennt Danthine mehr Informationen auf der Internetseite, etwa Fragen-Antworten-Kataloge, und mehr Auftritte der Mitglieder des Direktoriums.

Vierte Fiktion: Finanzstabilität ist eine Utopie

Den Bemühungen, die Regulierung des Finanzsystems zu verbessern, schlage zuweilen Skepsis entgegen. «Diese Skepsis fusst auf der Ansicht – oder der Fiktion –, dass Finanzstabilität eine Utopie sei.» Danthine teilt diesen Pessimismus nicht.

Für ein dauerhaft höheres Niveau der Finanzstabilität müssten zwei sich ergänzende Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens müssten wir unsere Kenntnisse über die Quellen von Finanzinstabilität laufend verbessern. Doch «es ist klar, dass es uns angesichts der Komplexität und der dynamischen Entwicklungen des Finanzsystems nie gelingen wird, auf alle Zeiten sämtlichen Krisen vorzubeugen.»

Grossbanken und Immobilienmarkt

Zweitens sei Finanzstabilität eine Frage des politischen Willens. Im Fall der Schweiz sei ziemlich klar, welches die Hauptquellen potenzieller Finanzinstabilität sind. Gemäss heutigem Wissensstand ergäben sie sich entweder aus der Too-big-to-fail-Problematik: Mehrere Banken wiesen im Verhältnis zum BIP grosse Bilanzen auf. Oder die Gefahr liege in den bedeutenden Ungleichgewichten, die sich im inländischen Immobilien- und Hypothekarmarkt aufgebaut haben, und der starken Exponiertheit der inländisch orientierten Banken in diesen Märkten.

Es sei eine schwierige Aufgabe, die Stabilität des Finanzsystems dauerhaft zu erhöhen. «Aber es ist keine Utopie.» Die Erfahrungen während der letzten Jahre stimmen Danthine «vorsichtig zuversichtlich». Die Schweiz sei auf ihrem Weg, die zwei Hauptquellen für Stabilitätsrisiken in den Griff zu bekommen, schon weit fortgeschritten. «Trotzdem ist es zu früh, um Entwarnung zu geben.»