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Digitale Kunst geht nach Brot

Phil Macquet, UFO, 2013.

Sandra Nedvetskaia ist ganz sicher: Das von ihr für 300’000 Franken angebotene Virtual-Reality-Werk von Paul McCarthy wird einen Abnehmer finden. «Daran besteht kein Zweifel. Bald werden wir alle eine Virtual-Reality-Brille haben, mit denen wir die Experimente der grössten Künstler nachempfinden können.

Bereits heute schwören viele aufgeklärte Sammler nur noch auf digitale Kunst.» In der festen Überzeugung, dass der Kunstszene ein Paradigmenwechsel bevorsteht, hat die Zürcherin die Produktionsfirma Khora Contemporary gegründet.

Der Amerikaner Paul McCarthy, Urheber der umstrittenen grünen Buttplug-Skulptur auf dem Pariser Vendôme-Platz, ist nicht der einzige Kunstschaffende, der auf den Trend aufgesprungen ist. Auch der deutsche Bildhauer und Bühnenbildner Christian Lemmerz hat eine Ausstellung über virtuelle Realität auf die Beine gestellt.

Wie aber erklärt sich dieser Boom? Seit in den 1960er-Jahren die ersten digitalen Werke entstanden sind, hat die Technologie Quantensprünge vollzogen. Heute sind die Datenträger und Programme allen zugänglich.

«Die Zeiten haben sich geändert,» sagt Alexis Georgacopoulous, Leiter der Hochschule für Kunst und Design ECAL in Lausanne. «Viele Studenten wären herausragende Maler oder Bildhauer, aber sie arbeiten lieber digital. Ich unterstütze sie dabei. Wenn jemand Talent hat, spielt es keine Rolle, ob er zur Maus oder zum Pinsel greift.»

Grosse Nachfrage seitens der Marken

Als logische Folge der zunehmenden Faszination der Künstler für Digitales mehren sich die Initiativen, die Werke zu erhalten, auszustellen oder zu verkaufen. 2015 wurde der virtuelle Ausstellungsraum DiMoDa aufgeschaltet.

Ein Jahr später öffnete in Zürich das MuDA, das erste Museum für digitale Kunst. Dass diese Ausdrucksform salonfähig geworden ist, zeigt sich aber nicht nur in den Museen, sondern auch an den grossen Kunstmessen. Sammler und viele Marken treiben die Nachfrage rasant in die Höhe.

Abdel Bounane hat die Chance erkannt. Der junge Pariser Unternehmer hat sich mit seiner Firma Bright auf die Produktion und die Diffusion von digitaler Kunst spezialisiert. Mit Erfolg. «Unsere Künstler machen Videokunst und stellen individuelle Auftragsarbeiten für LVMH, Nike und Audi her», erklärt er das Konzept.

«Die Unternehmen bezahlen dafür 500 bis 1500 Euro in Form eines Monatsabos, die Hälfte davon geht an die Urheber. Ihre Werke werden auf Computern, Grossleinwänden, Tablets oder Smartphones gezeigt. Wir erhalten täglich neue Anfragen. Digitale Kunst ist ganz offensichtlich die neue Gegenwartskunst.»

Abdel Bounane, CEO von Bright: «Digitale Kunst ist die neue Gegenwartskunst»

Die Kurve bekommen

Louisa Gagliardi aus Zürich gehört ebenfalls zu den Gewinnerinnen der digitalen Wende. Die gelernte Grafikdesignerin gilt als aufstrebender Stern in der Kunstszene. Ihr Spezialgebiet sind gerahmte figurative Photoshop-Malereien.

«2015 wollte ich eine neue Sprache entwickeln und habe einige Realisationen auf meinem Blog veröffentlicht. Kurz darauf wurden die beiden Galerien Downs & Ross in New York und Ellis King in Dublin auf mich aufmerksam. Sie haben den Preis für meine Bilder festgelegt. Das erste wurde für 5500 Franken verkauft. Momentan liegt der Marktwert meiner Bilder bei rund 8000 Franken. Dass ich digital arbeite, wird von den Käufern als Mehrwert empfunden.»

Der junge Shootingstar ist vor zwei Jahren auf den digitalen Zug aufgesprungen und hat es noch keinen Augenblick bereut, zumal immer mehr Galerien für zeitgenössische Kunst digitalen Künstlern ihre Räume zur Verfügung stellen, so auch Humo in Zürich. «Diesen Sommer haben wir mit dem Japaner Norimichi Hirakawa erstmals eine Ausstellung eines Digitalkünstlers gezeigt», sagt Florian Helmke-Becker, Besitzer der Galerie.

«Er kreiert Video-Installationen aus digitaler Codierung und Algorithmen. Die ersten wechselten für 6500 bis 8000 Franken den Besitzer. Für die gerahmten Bilder werden zwischen 800 und 2800 Franken geboten. Digitale Kunst wird immer gefragter.»

Norimichi Hirakawa, «The Irreversible», 2016.

Geschäftsmodell mit Tücken

Trotz der steigenden Nachfrage gibt es kaum Künstler, die von der digitalen Kunst leben können. Sie müssen sich meist mit Auftragsarbeiten über Wasser halten. Benjamin Vurlod ist einer von ihnen. Seine Arbeit sei stark kundenorientiert, sagt der Geschäftspartner von Digital Kingdom in Vevey, «denn sobald Kunst immateriell wird, verliert sie an Wert».

Ähnliche Erfahrungen macht Lara Défayes, eine in Lausanne tätige Multimediadesignerin: «Momentan lebe ich nicht von meiner Kunst, sondern von meinen Beruf als Designerin», sagt sie. Sie sieht sich vor allem mit einer Herausforderung konfrontiert: «Um ein digitales Werk zu Geld zu machen, muss man es nachhaltig konservieren.»

Phil Macquet sieht noch ein anderes Problem. Er stosse immer wieder auf Unverständnis, wenn er das neue Medium anspreche, sagt der digitale Plastiker aus Lille. «In der Kunstszene ist Technophobie relativ weit verbreitet. Ich lebe von meinen Aufträgen und dem Galerienverkauf meiner Werke. Zum Glück sind meine Kreationen nicht rein virtuell, sondern auf Leinwände gespannt.»

Marc Simonetti aus Annecy spürt die fehlende Anerkennung ebenfalls. «Ich habe gerade eine grosse Arbeit an der Kulisse und den Personen von , dem neusten Film von Luc Besson, fertiggestellt. Obschon ich kein unbekannter Künstler bin, hält sich die Meinung, digitale Kunst sei einfacher zu produzieren, noch immer zäh. Auch wenn das totaler Unsinn ist.»

Marc Atallah, der Kurator der Maison d’Ailleurs in Yverdon-les-Bains, macht dieses Argument wütend. «Hinter einem Werk, das für 400 Franken verkauft wird, steckt nicht selten ein ganzer Monat Arbeit. Viele müssen daher Auftragsarbeiten annehmen, brauchen sich aber nicht dafür zu schämen, zu Michelangelos Zeiten war das nicht anders. Die Digitalisierung ist lediglich ein Instrument und die Künstler sind Bildhauer des Digitalen. Statt mit fester Materie arbeiten sie mit Pixeln.»

Nur einigen wenigen gelingt es, das Wirtschaftsmodell der zeitgenössischen Kunst erfolgreich auf die digitale Kunst zu übertragen. Die meisten kämpfen gegen Windmühlen. Die grössten Probleme sind die einfach zu kopierenden Computerdateien und die veralteten Träger immaterieller Werke.

Sie halten den Marktwert künstlich am Boden. Eine Lösung wäre eine besondere Form des Urheberrechts, das den Künstlern Honorare garantieren würde, die nicht den Besitz, sondern den Zugang an Ausstellungen vergüten.

Eine andere Option wäre die Zertifizierung als Unikat. Alexis Georgacopoulos ist von dieser Lösung überzeugt: «Es gibt IT-Sicherheiten, mit denen die Einzigartigkeit eines Werks nachgewiesen werden kann, etwa so wie Auguste Rodin, der die Gussformen seiner Skulpturen zerschlug, um Nachahmungen zu verunmöglichen.

Es wird eine Spaltung geben zwischen vervielfältigter digitaler Kunst auf der einen und stärker kontrollierter und somit höher bewerteter digitaler Kunst auf der anderen Seite.»

Louisa Gagliardi, Tense Shift, 2017.

Kodierte Kreation

Wie aber wird sich der Markt in diesem undurchsichtigen Dickicht digitaler Werke verändern? «Digitale Kunst wird sich parallel zu den Technologien entwickeln», so Lara Défayes‘ klare Meinung. «Erstens wird der Zugang zu digitalen Tools dank Open Source und Prototyping-Plattformen wie Arduino oder Adafruit jeden Tag einfacher. Zweitens sind die digitalen Medien für die Internetgeneration eine natürliche Ausdrucksart.»

Abdel Bounane geht sogar noch einen Schritt weiter: «Künstliche Intelligenz wird eine tragende Rolle spielen und den Schaffensprozess automatisieren. Dadurch werden die Daten und die digitalen Werke enger zusammenrücken, denn der Künstler stellt kein Artefakt mehr her, sondern einen eigenen Code. Damit kann er sich die Daten zu eigen machen und neue Geschichten erzählen.»

Am etablierten Kunstmarkt wird der Marktwert in der Regel mit der Qualität des Werks gerechtfertigt. Die digitale Kunst bricht mit dem Preisdogma. Diese Revolution birgt ungeahnte Chancen, da sie den Schaffensakt aus seiner Abschottung löst und den Fokus auf die Sprache des Künstlers lenkt.