Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

«Die Zinsen werden tief bleiben»

Adair Turner: «Wir haben recht gute Arbeit geleistet, um das Finanzsystem sicherer zu machen.»

Der Schuldenberg ist riesig und der Deflationsdruck hartnäckig, darum bleiben die Zinsen tief. Das verschärft die Ungleichheit in der Gesellschaft, was wiederum den Populismus begünstigt. So lautet die Argumentationskette von Adair Turner, dem Chairman des Institute for New Economic Thinking (INET).

Die Nachfrage müsse stimuliert werden, sagt Turner, aber nicht wie bisher mit riesigen Beträgen von neuem Notenbankgeld für den Kauf von Staatsanleihen. Besser wirkten etwas kleinere Summen, womit die Zentralbank direkt den Staat finanziere – man spricht von Helikoptergeld. Lord Turner referierte vergangene Woche am FuW Fund Experts Forum.

Herr Turner, die Furcht vor Deflation ist gewichen. Müssen wir uns nun auf höhere Inflation vorbereiten? - Es ist natürlich möglich, dass die Inflationserwartungen steigen und damit die Teuerung zunimmt. Aber ich habe den Eindruck, dass die deflationären Kräfte in der Welt immer noch beträchtlich sind. Die Zinsen werden tief bleiben.

Ist die expansive Geldpolitik nicht kräftig genug, um Inflation herbeizuführen? - Der monetäre Stimulus war massiv. Verblüffend ist aber die Tatsache, dass all die aussergewöhnlich starken geldpolitischen Massnahmen bloss bewirkten, dass die Inflation von null in die Nähe des Ziels von 2% steigt. Das weist darauf hin, dass sehr starke fundamentale, strukturelle Faktoren in die andere Richtung ziehen.

Wäre mehr Inflation zu erwarten gewesen? - Hätte 2007 jemand gefragt, wo die Teuerung dereinst steht, wenn die Zentralbanken angesichts eines Deflationsproblems die Zinsen auf null senken und dort acht Jahre lassen und wenn sie ihre Bilanzen auf ein Viertel des Bruttoinlandprodukts ausweiten und all diese Anleihen kaufen – die Antwort hätte gelautet: 10%, vielleicht gar 20% Inflation. Die weltweiten deflationären Kräfte sitzen tief.

Helfen höhere Staatsausgaben, um die Deflation zu überwinden? - Ohne den staatlichen Stimulus in China durch die Kreditausweitung von 2009 bis heute wäre die Weltwirtschaft in einer viel tieferen deflationären Falle. Vergangenes Jahr hat China den Stimulus weitergeführt, was mich überrascht hat – ich dachte, die chinesische Regierung gehe davon aus, dass der inländische Schuldenberg untragbar geworden sei. Ich glaube aber nicht, dass noch mehr neuer Stimulus kommen wird.

Wie steht es um die Fiskalpolitik in den USA und Europa? - Die Fiskalpolitik in der Eurozone hat sich entspannt, und Grossbritannien hat nach dem Brexit-Votum das Haushaltsziel im Grunde aufgegeben. Weltweit hat eine Lockerung stattgefunden, und für die USA wird eine solche erwartet. All das könnte bewirken, dass die Welt für einige Jahre zu einer Teuerung in der Nähe des Inflationsziels zurückkehrt, vielleicht mit etwas höheren Zinsen. Trotzdem bestehen starke deflationäre Tendenzen.

Wie entwickeln sich die Zinsen? - Im Jahr 2020 werden die Leitzinsen der Zentralbanken in Japan, der Schweiz und der Eurozone immer noch nahe null sein. In Grossbritannien steht der Leitzins dann wohl auf ¾ oder 1%, in den USA auf 2½%.

Wo stehen dann die langfristigen Zinsen, die auch die erwartete Inflation spiegeln? - In den letzten sechs Monaten sind die Nominalzinsen gestiegen, da sich die Inflationserwartungen erhöht haben. Aber die langfristigen Realzinsen sind keineswegs höher, sondern so tief wie zuvor, und sie werden vermutlich tief bleiben. Die langfristigen Realzinsen werden nicht von den Erwartungen gesteuert und auch nicht von den Zentralbanken, sondern von der strukturellen Balance zwischen weltweitem Sparen und Investieren. Das spricht weiterhin für sehr tiefe langfristige Zinsen.

Idealerweise sollten höhere Zinsen die Banken und das Finanzsystem entlasten. Droht jetzt von dort Gefahr? - Das Finanzsystem ist viel sicherer als vor der Krise. Ich glaube nicht – in der Hoffnung, nicht überoptimistisch zu sein –, dass wir eine sich schnell ausbreitende Finanzkrise wie 2008 zu befürchten haben. Die Banken haben mehr Kapital und mehr Liquidität, und wir haben die Risiken im Derivathandel reduziert. Ich war während fünf Jahren in der Finanzaufsicht und gehörte zu den Falken, mit meinem Freund Philipp Hildebrand aus der Schweiz und mit den Amerikanern. Wir plädierten für hohe Kapitalanforderungen. Ich glaube, wir haben recht gute Arbeit geleistet, um das Finanzsystem robuster zu machen.

Können Sie also Entwarnung geben? - Das grosse Problem sind die hohen Schulden in der realen Wirtschaft – bei den Unternehmen, den Privathaushalten und dem Staat. Es fällt uns sehr schwer, die Wirtschaft am Laufen zu halten, ohne noch mehr Schulden zu machen und damit ein künftiges Problem zu verursachen. Wir könnten dereinst in der Falle sitzen. Um die hohen Schulden tragen zu können, brauchen wir sehr tiefe Zinsen.

Was kein Problem ist, wenn die Zinsen ohnehin weit unten bleiben. - Tiefe Zinsen haben negative Auswirkungen. Ein Problem ist die langfristige, säkulare Zunahme der Ungleichheit. In solch einem Umfeld ist die Strategie, die Weltwirtschaft mit sehr tiefen Zinsen am Laufen zu halten, zwangsläufig gut für Personen, die Vermögen besitzen. Sie halten – im Gegensatz zu Leuten mit geringerem Einkommen – mehr Geld in Anleihen oder Aktien. Diese gewinnen an Wert, wenn die langfristigen Zinsen fallen.

Die Ungleichheit nimmt auch wegen des technologischen Wandels zu. - Tiefe Zinsen verstärken die Ungleichheit systematisch. Wenn tieferliegende technologische Veränderungen zu mehr Ungleichheit führen, dann ist es bedauerlich, dass die Wirtschaftspolitik nicht dagegenwirkt, sondern dies verschlimmert.

Wie könnte man Gegensteuer geben? - Nach der Finanzkrise kam der Stimulus später und war von grösserer Ungleichheit und höheren Schulden begleitet, als es nötig gewesen wäre. Das verursachte politische Risiken, in der Folge kamen der Brexit, Donald Trump und der Populismus.

Was ist zu tun? - Wir sind grosse Risiken eingegangen. Die Grundhaltung in der Fiskalpolitik war zu stramm. Deshalb wurden die Bilanzen der Zentralbanken aufgebläht, im Versuch, die Wirtschaft mit rein geldpolitischen Massnahmen zu stimulieren. Viel besser als riesige Beträge für einen rein geldpolitischen Stimulus wären kleinere Beträge für Steuersenkungen oder Staatsausgaben gewesen, finanziert von der Zentralbank.

Sie plädieren also für sogenanntes Helikoptergeld, gedruckt von der Notenbank zur Finanzierung von Staatsschulden. - Die britische Zentralbank hat ab 2009 für 400 Mrd. £ Anleihen gekauft – das Quantitative Easing. Und sie sagt, QE werde künftig rückgängig gemacht, sie baue den Anleihenbestand dereinst ab. Doch die Bank of England hätte besser 50 Mrd. £ für die monetäre Finanzierung eines zusätzlichen Staatsdefizits eingesetzt. Und sie hätte der Öffentlichkeit sagen sollen, dies sei permanent monetär finanziert. Damit hätte die BoE ihre Bilanz weniger aufgebläht und die Wirtschaft mehr stimuliert. Wegen des Verzichts auf einen monetär finanzierten Fiskalstimulus haben wir nun gefährlich grosse Notenbankbilanzen.

Was sollten die Zentralbanken angesichts ihrer riesigen Bilanzen unternehmen? - Schauen wir uns Japan an. Die Bank of Japan wird niemals in der Lage sein, alle Staatsanleihen, die sie gekauft hat, an den Privatsektor zurückverkaufen, um QE rückgängig zu machen. Aber sie könnte einen Teil davon verkaufen.

Ein Verkauf könnte die Märkte erschüttern. - Die Bank of Japan sollte erklären, dass sie z. B. ein Viertel der Staatsanleihen in ihrem Besitz abschreibt. Wenn das zusammen mit einem weiteren Fiskalstimulus die Inflationsrate auf 2% hievt, könnte die BoJ den übrigen Bestand an Staatsanleihen verkaufen. Damit würde sie ihre Bilanz verkleinern – auf ein Niveau, wie wenn sie von Beginn weg einen kleineren monetär finanzierten Fiskalstimulus gemacht hätte, anstelle des riesigen QE.

Was geschieht mit den abgeschriebenen Staatsanleihen der Bank of Japan? - Das ist eine permanente, monetär finanzierte Transaktion, eine Ausdehnung der Notenbankgeldmenge. Das Geldangebot bleibt dauerhaft höher. Bisher sind mit QE und der Expansion der Geldmenge die Einlagen der Banken bei Japans Zentralbank von 6 auf 100% des Bruttoinlandprodukts gestiegen. Besser als dieser grosse temporäre Betrag wäre ein kleinerer permanenter Betrag gewesen. Doch man erreicht das Gleiche, wenn man jetzt akzeptiert, dass ein Teil des Geldangebots beständig höher bleibt – und ein Teil der Expansion rückgängig gemacht wird.

Eine permanent höhere Geldmenge könnte dereinst zu hoher Inflation führen. - Zentralbanken haben immer Werkzeuge. Wird die Inflation zu hoch, können sie Gegenmassnahmen ergreifen. Sie können beispielsweise eigene kurzfristige Wertschriften – Bills – emittieren und verkaufen, um das Geldangebot zu reduzieren.

Viele Ökonomen lehnen Helikoptergeld ab. Die Gefahr sei zu gross, wenn die Notenbank Staatsschulden direkt finanziere. - Die Schwierigkeiten sind nicht technischer Natur, sondern politisch. Das wirklich legitime Argument gegen eine monetäre Finanzierung, das ich respektiere, ist: Wenn wir das Tabu brechen und den Politikern sagen, dass dies möglich ist, dann werden sie es immer wieder tun wollen, in unangemessen hohem Umfang – statt nur in kleineren Beträgen unter spezifischen Umständen, wenn die nominale Nachfrage zu gering ist. Es gibt gewisse Situationen, in denen eine monetäre Finanzierung der einzige oder der risikoärmste Weg ist, um die Nachfrage zu stimulieren.

Glauben Sie wirklich, dass sich die Politiker davon abhalten lassen, für neue Staatsausgaben die Druckerpresse anzuwerfen? - Ja. Der ehemalige US-Notenbankchef Ben Bernanke schlägt Folgendes vor: Der Umfang der monetären Finanzierung darf nicht von der Regierung festgelegt werden, sondern von einer unabhängigen Zentralbank. Eingesetzt wird das Instrument in einer Situation wie 2010, wo die Inflationsrate zu tief ist und die Zentralbank versucht, die Nachfrage anzukurbeln – und falls sie der Ansicht ist, dass ihre anderen Werkzeuge nicht wirken.

Wie behält die Notenbank die Kontrolle? - Die Zentralbank druckt den von ihr bestimmten Betrag und überweist ihn auf ein Konto für die Regierung. Diese Summe soll helfen, die Teuerung zum Inflationsziel anzuheben. Die Regierung bestimmt, wie der Betrag eingesetzt wird, für tiefere Steuern oder höhere Staatsausgaben. So lässt sich das Werkzeug der monetären Finanzierung einsetzen, diszipliniert und verankert in einer unabhängigen Zentralbank, die ein Inflationsziel verfolgt.

Soll also die monetäre Finanzierung ein neues Defizit im Staatshaushalt finanzieren oder bestehende Schulden? - Beides ist möglich, sogleich oder nachträglich. Japan hätte ab 2002 Haushaltsdefizite mit Notenbankgeld finanzieren sollen, Jahr für Jahr. Das haben sie aber nicht getan. Stattdessen finanzierten sie hohe Defizite mit Schuldtiteln. Und in der Folge, aber als eine scheinbar separate Massnahme, hat die Zentralbank die Schuldtitel gekauft. Falls nun die Notenbank die Schuldtitel ewig hält und die Zinseinnahmen der Regierung zurückzahlt, dann ist das effektiv eine nachträgliche monetäre Finanzierung.

Stossen Sie in der Debatte unter Ökonomen auf Verständnis? - Es gibt eine deutliche Verschiebung in der Diskussion. In einem IWF-Aufsatz argumentierte ich, es sei technisch machbar, aber politisch möglicherweise gefährlich. Dazu hat niemand eine stichhaltige Kritik verfasst. Die ökonomische Theorie ist weitgehend geklärt, meiner Meinung nach haben wir Befürworter die Debatte gewonnen.

Wo sollte heute ein Staatsdefizit direkt mit frischem Geld bezahlt werden? - Kaum getan wird dies vorderhand in den USA, Grossbritannien und Europa. Dort hat der bestehende Mix aus Massnahmen nun letztendlich einen Stimulus gebracht. Es ist zwar zu bedauern, dass wir nach der Finanzkrise nicht das bessere Werkzeug eingesetzt haben. Aber jetzt werden wohl auch Befürworter der monetären Finanzierung folgern, dass wir sie derzeit nicht benötigen, zumal sie politische Risiken birgt. Im Fokus stehen China und Italien.

Für Italien ist eine monetäre Finanzierung durch die EZB kaum denkbar. - Die Eurozone hat eine Zentralbank und zahlreiche Regierungen, da ist das viel komplizierter. Die Frage lautet: Wer bestimmt über die Verwendung des Zentralbankgeldes? Skeptiker befürchten, Italien würde nach einer erfolgreichen monetären Finanzierung immer wieder dafür lobbyieren. Deutschland wird sein Einverständnis wohl nicht geben.

Wie kann Italien die Schulden abbauen? - Ich bin skeptisch, dass ein Schuldenproblem wie in Italien innerhalb der bestehenden Struktur der Währungsunion gelöst werden kann. Es bräuchte einen Abschreiber, und der wäre viel disruptiver als der griechische, weil Italien viel grösser ist. Oder es bräuchte einen zusätzlichen Stimulus oder Beihilfe. Die Währungsunion ist unvollständig.

Druckt China Geld für das Staatsdefizit? - Dort gehören die meisten Banken dem Staat, und die Mehrzahl der Kreditnehmer sind entweder Staatsbetriebe oder Regionalregierungen. Die Unterscheidung ist schwierig zwischen einer Liquiditätszufuhr zur Stützung der Banken und einer Art monetären Finanzierung: Die Zentralbank leiht zu einem tiefen Zins Geld an eine staatliche Geschäftsbank, womit diese einen Kredit an eine Regionalregierung gewährt, für den Bau von Strassen und Flughäfen.

In Japan ist die monetäre Finanzierung also am weitesten gediehen. - Dort wird es immer offensichtlicher werden, dass die Zentralbank Staatsschulden de facto monetär finanziert. Private Investmentgesellschaften werden zunehmend das wirkliche Niveau der japanischen Staatsschulden eruieren. Es wird eine Art faktische Akzeptanz geben. Aber selbst Japan kann Schulden monetär finanzieren, ohne dies einzugestehen. Das könnte ein Modell sein für anderswo. Man erhält das Tabu aufrecht, während man es bricht.