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Die Wilden und die Bestien

«Ulysses und Polyphem», Arnold Böcklin, 1896

Sie sind Rückzug, wenn’s schlecht geht, beunruhigend, wenn die Dinge gut laufen. Eine Frage des Gleichgewichts also? Nur bestimmte Epochen haben Wildheit und Bestialität hervorgebracht. Zwei ganz unterschiedliche Dinge.

Verdanken wir nicht dem Genfer Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) den Mythos des «edlen Wilden», der von der Zivilisation korrumpiert wird? Das Mittelalter, geprägt von der Gewalt im Alltag, und zwar nicht nur von der kriegerischen, war fasziniert vom Wilden, vom Naturmenschen, aber auch von Fabelwesen (vom Drachen und Einhorn), die man als eine Realität betrachtete.

Die Tiefen der Meere und die hohen Berge waren bevölkert von fantastischen, wenn möglich diabolischen Wesen. Die meistens in den Wäldern lebenden Wilden waren behaart, oft gewalttätig und auf jeden Fall asozial und hatten in den Malereien und den Bildteppichen des 15. und 16. Jahrhunderts ihren Auftritt. Man denke an Dürer.

In derselben Epoche entdeckten die Seefahrer die neue Welt. Sie eroberten Amerika mit Gewalt, Afrika mit kommerziellen Verlockungen. Indianer und Schwarze wurden als Wilde dargestellt, wobei man sich auch fragte, ob sie wirklich eine Seele besassen.

Aber ihre Darstellungen bleiben marginal. Die Schwarzen sind allenfalls in den Bildern der Heiligen Drei Könige vertreten, die die drei Lebensabschnitte, später die drei Kontinente symbolisierten.

Ist der Wilde nicht mehr aktuell, wie steht es dann mit dem Bestialischen? Omnipräsent versteckt er sich hinter der Religion und der Mythologie. Zum Ende des Mittelalters mehren sich die spektakulären Martyrien.

Es geht darum, die Masse, oft Analphabeten, nachhaltig zu beeindrucken. Wie haben die Frauen und Männer gelitten, die ihren christlichen Glauben kundtaten! Sie wurden gepfählt, aufgeschlitzt, geblendet, zweigeteilt.

«Angriff der Avantgarde», Markus Lüpertz, 2015

Die Kirche scheint diese Inkohärenz nicht wahrzunehmen, da sie die Ketzer den gleichen Qualen aussetzt. Ende 16. Jahrhundert verlieren diese sadistischen Bräuche an Aktualität. Nach dem Konzil von Trient (1542–1563) müssen die kürzlich kanonisierten Heiligen, von denen viele ganz brav im Bett gestorben sind, als Märtyrer zelebriert werden.

Glücklicherweise ist da noch die Mythologie als unerschöpfliche Quelle furchtbarer Geschichten. Für die Griechen sind Götter wie die Menschen, lasterhaft, eifersüchtig und böse. Selbst Apollon hat etwas Monströses, man soll sich vom Gott des Lichtes nicht täuschen lassen.

Er war es, der dem lebenden Satyr Marsyas die Haut abzog, der zusammen mit Artemis Niobes Kinder mit Pfeil und Bogen niederstreckte. Seine Schwester war zu allem fähig. So warf sie Aktaion ihren Hunden zum Frass vor, nachdem sie ihn nackt im Bad überrascht hatte.

Man kann sich die bildliche Wucht eines solchen Themas leicht vorstellen, verbindet es doch Erotik mit Grausamkeit. Aber es gab auch Künstler, allen voran Tizian, die den schrecklichen Akt nicht zeigten, sondern lieber der Fantasie des Betrachters vertrauten.

Im 17. und 18. Jahrhundert werden die Geschichten galanter, die Bibel braver. Die Verführung löst den Schrecken ab. Die Revolution bringt die Diktatur der Tugend hervor, eine nörgelnde zwar.

Es braucht die Romantik, um das wiederzufinden, was Victor Hugo in «Die Elenden» als «Sturm unter einem Schädel» bezeichnete. Es wird wieder geschlachtet, vergiftet, geköpft. Ohne Nahrung mit seinen Kindern eingekerkert, isst Ugolino diese auf.

Dantes Darstellung wird von Delacroix und Carpeaux übernommen. Homers starke Themen werden noch stärker interpretiert. «Andromaque» von Georges-Antoine Rochegrosse ist das gewalttätigste Bild des Jahrhunderts mit dem in die Tiefe geworfenen Kind, den vergewaltigten Frauen und den abgeschnittenen Köpfen.

Es herrschte Stabilität

Trotz der Revolutionen ist das 19. Jahrhundert die Epoche der Stabilität. Man darf ohne Konsequenzen und Angst seine dunklen Seiten hegen und pflegen. Der Symbolismus sucht manchmal die Nähe des weiterhin barbarischen Unbewussten.

Es ist die Rückkehr der alten Mythen. Gute und böse Zentauren verlassen die Wälder. Man weiss nie, was sie im Schilde führen. Der Basler Maler Arnold Böcklin (1827–1901) zeigt sie manchmal als wilde Kämpfer, manchmal halten sie dem örtlichen Hufschmied brav die Hufe hin.

Schlimmer sind die Sirenen, die leichtfertige Seeleute mit Vergnügen ertrinken lassen. Die Symbolisten sind nicht unbedingt frei von Frauenfeindlichkeit. Aber diese antiken Geschichten sind wirklich alt. Seither sind Städte und Maschinen entstanden.

Die französischen Fauves stehen für eine bunte, fröhliche Kunst, während die deutschen Expressionisten sich (wie oft im Leben) als Revolutionäre und Unruhestifter geben. Die Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene Bewegung wird vom Nazismus gestoppt, der die heitere, freundliche Malerei bevorzugt – im radikalen Kontrast zu seinem Wesen.

Mit den Expressionisten wird die moderne Stadt zum Dschungel, der die Ärmsten auffrisst. Dies hat aber mit dem Primitivismus der «Demoiselles d’Avignon» von Picasso nichts zu tun, die 1907 als «nicht vorzeigbar» eingestuft wurden.

Und die moderne Zeit?

Die Abstraktion mit den geometrischen und damit intellektuellen Figuren wird zur dekorativen Kunst. Dies dachte auch Francis Bacon, dessen Werk zweifellos das brutalste des 20. Jahrhunderts ist.

Eine Reaktion war somit unumgänglich. Sie entsteht im nun mehr wohlhabenden Deutschland mit den «Neuen Wilden» oder «Neuen Heftigen» der Jahre 1960, 1970 und 1980. A. R. Penck, Goerg Baselitz, Markus Lüperz wollen mit Gewissheiten brechen. Aufwecken. Beunruhigen.

Was ist heute davon geblieben? Nicht viel. Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung ist die Kunst brav geworden. Die Ausbildung der Künstler ist in Schulen kanalisiert, die vor allem lehren, wie man sich verkauft.

Das Angebot folgt der Nachfrage. Diese privilegiert das Einfache, Unterhaltende, Spektakuläre. Oder finden Sie, dass ein Jeff Koons wild ist? Und was halten Sie von Damien Hirst, der seine in zwei Hälften geschnittenen Kühe in Formalin einlegt?