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Die Wiederentdeckung des Originals

Behauptung und Täuschung wurden salonfähig in Kommunikation, Medien und Politik. Woran soll sich der Mensch orientieren, wenn das Wahre weniger zählt als sein Plagiat? Es ist Zeit, das Echte und die Kopie davon neu zu definieren.

Eine Person sitzt, gut angezogen und stilbewusst, auf einem Sofa. Nicht auf irgendeinem, natürlich. Lässig, ja scheinbar nachlässig streichelt sie mit ihren Fingern den Metallrahmen, der das Sofa zusammenhält. Was nach Zerstreuung aussieht, ist in Wahrheit die Handbewegung eines Kenners, der flüchtig, aber für Eingeweihte sichtbar, prüft, ob es sich beim Objekt um ein Original handelt oder eine Kopie.

Es geht, wie Sie sicher wissen, in dieser Szene nicht um die Person, sondern um das Sofa: das LC2. Das kleine schwarze Zweiersofa von Le Corbusier, ein säuberlich durchdachtes und konsequent designtes Konstrukt von sechs rechteckigen schwarzen Lederkissen, zusammengehalten von einem verchromten Stahlrohrrahmen.

Auf diesem sind, sofern es sich um ein Original handelt, die Unterschrift des Architekten, eine Seriennummer und das Logo des Herstellers, der die Lizenz besitzt, eingraviert. Das Sofa, ein Klassiker des Möbeldesigns, wurde millionenfach kopiert und schmückt Zimmer, Wohnungen und Lofts auf der ganzen Welt.

In meinem Freundeskreis erzählte man sich diese Szene zum LC2 in jener Zeit, als wir anfingen, uns die erste schöne Wohnung einzurichten – nicht mehr studentisch mit IKEA, sondern etwas Besserem: schön, von guter Qualität und beständig sollte es sein.

Wir stritten uns schon damals darüber, ob Kopien deplatziert seien. Fast alle meinten: Ja. Man ehrt den Erschaffer nicht, man bringt ihn um seinen verdienten Lohn, gerade auch finanziell. Wer eine Kopie kauft, entlarvt sich als Profiteur, ja letztlich als geschmackloser Banause.

Und umgekehrt?

Ist, wer sich mit der Kopie zufrieden gibt, nicht einfach kein Snob? Jemand, der zwar weiss, was schön ist, aber nicht damit angeben muss? Sich nicht schmücken muss mit etwas, wozu er ohnehin nichts beigetragen hat? Nach dieser Ansicht wäre, wer auf einem echten Corbusier sitzt, ein blasierter Geck, der sich auf seinen Geschmack etwas einbildet.

Von Pierre Bourdieu stammt die Theorie der sozialen Distinktion. Nach ihm sind Geschmacksurteile in erster Linie bildungsbedingt und somit klassenspezifisch. Und das geht dann etwa so: Wer Bachs Fugen liebt, wird kaum für Gershwins «Rhapsody in Blue» schwärmen und Strauss’ «schöne blaue Donau» ganz und gar bieder finden. Um diese «feinen Unterschiede», so die deutsche Übersetzung seiner Studie, zu fassen, unterscheidet der französische Soziologe zwischen einem populären, einem mittleren und einem legitimen Geschmack – wobei Letzterer als Bezeichnung für die Präferenz der obersten Schicht nicht ohne Ironie gewählt sein dürfte.

Selbst wenn es sich bei den Kategorien Bourdieus nicht um die Unterscheidung zwischen Original und Kopie handelt: der Streit darüber, was warum produziert, gehandelt und vor allem gemocht werden darf, ist derselbe: Die Wertschätzung eines Originals ist legitim, diejenige einer Kopie verpönt. Der Status des Trägers oder Besitzers ergibt sich durch die bestätigende Anerkennung der andern.

Allerdings kann diese Haltung kulturell durchaus variieren. Für den Westen befremdlich ist die Nonchalance der Chinesen beim Kopieren. Das Original ist höchstens deshalb wertvoll, weil es gewinnbringend kopiert werden kann – ob es sich um Kunst, Antiquitäten oder Industrie- und Alltagsprodukte handelt. Ich werde die sogenannte «Altstadt» von Xian nie vergessen: kleine, zweistöckige Häuser, enge, lauschige Gassen, gesäumt von bunten Galerien und einladenden Teestuben.

Mit genauem Blick erst entdeckte ich den frischen Beton überall. Was einen leichten Hauch von Provence verströmte, war eine fein säuberlich fabrizierte Kopie – freilich ohne ihren Kern: die künstlerische Freiheit. Diese ist es auch, die den Wert eines Originals ausmacht, gerade in der bildenden Kunst.

Hersteller und Verkäufer von Kopien schädigen nicht nur den Käufer. Sie entwerten vor allem den Künstler, der für seine intensive Suche, seine inneren Kämpfe und den langwierigen, oft von Rückschlägen gezeichneten Produktionsprozess, in keinster Weise entschädigt wird – während der Besitzer der Kopie in den vollen ästhetischen Genuss kommt.

Wenn hingegen Kopien statt Originale aufgehängt werden, um diese vor schlechtem Klima oder Diebstahl zu schützen, ist dies ein klares Zeichen dafür, dass das Original nicht nur mehr wert ist, sondern diesem auch mehr Wert beigemessen wird.

Letztlich lautet die Frage immer wieder: Wie wertvoll ist ein Original? Wie wertlos eine Kopie? Und: Wer bestimmt deren Wert? Hängt dieser nur vom Besitzer ab oder ebenso vom Betrachter? Die Erfahrung, dass echte Textilien, Lederwaren und Gegenstände nicht nur optisch, sondern auch haptisch ein Genuss sind, heisst doch eigentlich, dass die Trägerin, der Träger, sich diese originale Qualität allein deshalb gönnen, weil sie selbst Freude daran haben.

Dies wäre ein Zeichen von Selbstbewusstsein, von Selbstbestimmung – und vice versa bei der Kopie. Die Abertausenden falschen Taschen, Uhren, Shirts und Schuhe, die jeweils gerade absolut «in» sind und zum üblichen Strassen bild nicht nur in China, sondern auch in unseren Alt- und Neustädten gehören, sind lediglich billige Kopien teurer Marken. Sie sind für Sozialkritiker tatsächlich ein Zeichen für Fremdbestimmung, nämlich das Resultat der Unterwerfung unter den so genannten Konsumterror, der einen dazu zwingt, Dinge zu kaufen, die man sich weder leisten kann noch leisten müsste.

Plagiate erschüttern

Selbst- oder Fremdbestimmung sind jedoch nur die Hälfte der Wahrheit. Ist die Einschätzung durch den andern wichtiger als die Wertschätzung durch einen selbst, herrscht Statusdenken vor – eine Selbsttäuschung, die irgendwann an Selbstbetrug grenzt. Die Täuschung kann sogar noch weiter gehen. Sollen andere eine Fälschung nicht entdecken, wird betrogen: der Erfinder um seine Mühe, der Kreateur um seine Phantasie, der Investor um seine Risikobereitschaft. Und der Konsument um sein Geld.

Vor Jahren erschütterten Plagiate die Politik – Fälle, in denen Politiker, die ansonsten ihre Aufgabe so schlecht nicht machten, sich mit falschen akademischen Titeln schmückten. Heute wird der Star des Reality TV, der erklärten medialen Kopie der realen Welt, Präsident – und strengt sich an, mit fake news und alternative facts gleich ganze Wissenssysteme und Lebenszusammenhänge zu manipulieren.

Leider ist auch er schon die Kopie des östlichen Originals, das seit Jahren eine fake democracy mit fake politics betreibt. Versteht man Politik als den Markt der Meinungen, auf dem um Machtanteile gekämpft wird – was die Politik zwar auch ist, aber nicht nur – haben politische Inszenierungen und Falschinformationen durchaus zum Ziel, den echten, selbstbestimmten Bürger zu ersetzen durch den gelenkten Untertan, der bereitwillig folgt, wohin auch immer, selbst wenn er dazu an die Urne gebeten wird. «Das Original», der Sonderling, der bunte Hund im Dorf, widersetzte sich der Norm und brach die Konventionen. Genau dafür wurde er geschätzt. Wer das Original schätzt, schätzt auch dessen Erschaffer. Wer eine Kopie besitzt, sollte sie zumindest nicht leugnen – und schon gar nicht mit ihr betrügen.