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Die verpasste Chance

Fünf Jahre sind seit dem Kollaps von Lehman Brothers vergangen. In den Herbstmonaten des Jahres 2008 kam es im globalen Finanzsystem beinahe zur Kernschmelze, die Welt stand am Abgrund. Reihenweise mussten Staaten horrende Risiken auf sich nehmen und ihren Banken zu Hilfe eilen. Die Zentralbanken pumpten Billionen ins Finanzsystem. Es war die schlimmste Weltwirtschaftskrise seit den Dreissigerjahren.

Für kurze Zeit ging ein Ruck durch die Weltgemeinschaft. Nie wieder sollte es geschehen, dass eine Krise im Bankensystem einen derart grossen Schaden anrichten kann. Doch dann geschah: fast nichts.

Zwar erarbeitete der Basler Ausschuss der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich das Basel-III-Regelwerk, und in einigen Staaten – etwa in der Schweiz, Grossbritannien und den USA – wurden länderspezifisch neue Gesetze erlassen. Insgesamt summiert sich die regulatorische Antwort jedoch auf wenig mehr als dies: Die Banken müssen etwas mehr Eigenkapital halten, und die Aufsichtsbehörden sind sich einig, dass es wünschenswert wäre – aber nach wie vor illusorisch ist –, international gültige Insolvenzstandards für Banken zu definieren.

Das ist die bittere Erkenntnis zum fünften Jahrestag des Sturms. Nichts hat sich geändert. Das globale Finanzsystem ist heute nicht sicherer und robuster als vor fünf Jahren. Was ist schiefgelaufen?

Falsche Argumente

Behörden und Politiker begingen ab 2009, nach der akuten Phase der Krise, zwei kolossale Fehler. Erstens: Sie stellten die Grösse und die Struktur des Bankensystems kaum in Frage, sondern nahmen es als gegeben an. Und zweitens: Sie verfielen den Argumenten der Banken.

Der erste Fehler ist bedauerlich. Mit etwas historischem Bewusstsein hätte klar sein müssen, dass die heutige Grossbankenstruktur, in der eine Handvoll Giganten mit Bilanzsummen von weit über 1000 Mrd. $ den Markt dominiert, eine Anomalie ist. Sie ist erst in den vergangenen 25 Jahren entstanden. In keinem Land wurden ernsthafte Diskurse geführt, ob die Deregulierungswelle, die seit den Achtzigerjahren über die Branche schwappte, teilweise kontraproduktiv war. Ebenso wenig wurde die Frage beleuchtet, welche Art finanzieller Innovationen volkswirtschaftlich nützlich ist und ob ein aufgeblähter Finanzsektor für die Volkswirtschaft möglicherweise sogar schädlich sein kann. Wie erwähnt: bedauerlich. Nicht entschuldbar ist jedoch der zweite Fehler.

Der effektivste Weg, die Robustheit im Finanzsystem massiv zu erhöhen, wäre nämlich simpel gewesen: viel mehr Eigenkapital in den Bankbilanzen. Das verschafft zwar keine Garantie, dass keine Unfälle geschehen, aber ein dickeres Polster an verlustabsorbierendem Kapital verringert die Wahrscheinlichkeit einer Kettenreaktion von Insolvenzfällen enorm. Doch genau gegen diese ­Forderung wehrten sich die Banken vehement. Ihr Argument: Eigenkapital sei zu teuer. Müssten sie mehr Eigenkapital halten, werde das ihre Kapitalkosten in die Höhe treiben. Das wiederum werde ihre Kreditvergabe verteuern und verknappen, was die Realwirtschaft schwäche.

Das Argument verfing. Es klingt logisch. Aber es ist falsch. Es kann ökonomisch wasserdicht widerlegt werden. Eigenkapital ist nicht teuer per se, es erscheint bloss teuer, weil die Banken kaum welches besitzen und es daher mit einer hohen Risikoprämie behaftet ist. Die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds haben auch nachgewiesen, dass höhere Eigenkapitalquoten nicht zu einer Kreditverknappung führen, im Gegenteil: Während der Finanzkrise waren es die bestkapitalisierten Banken, die ihre Kreditvergabe am wenigsten einschränkten.

In diversen Studien wurde ausserdem bewiesen, dass die Grossbanken in den Genuss abnormal niedriger Fremdkapitalkosten kommen: Der Bondmarkt stellt den Grossbanken günstig Kapital zur Verfügung, weil er davon ausgehen kann, dass die Bank im Notfall von ihrem Heimatstaat gerettet wird. Das ist nichts anderes als eine marktverzerrende Subvention der Kapitalkosten. Je grösser die Bank, desto zementierter ist ihr Too-big-to-fail-Status, und desto höher ist der Wert dieser Subvention.

Das Basel-III-Regelwerk ist sogar dem Wunsch der Banken gefolgt, die Anlagen in ihrer Bilanz mit komplexen internen Modellen nach Risiken zu gewichten. Das Resultat ist eine Scheinpräzision. Die Kapitalstärke der Banken sieht besser aus, als sie tatsächlich ist. Das zeigte im Frühjahr das Beispiel SNS Reaal: Die viertgrösste Bank der Niederlande wies kurz vor ihrer Notverstaatlichung eine risikogewichtete Core-Tier-1-Eigenkapitalquote von 12,2% aus. In der ungewichteten Betrachtung (Leverage Ratio) wurde klar, dass sich die Bilanz der Bank auf einem winzigen Sockel von 1,47% Eigenkapital getürmt hatte.

Eine Risikogewichtung der Anlagen kann durchaus sinnvoll sein. Aus Gründen der Transparenz, der Komplexität und der Vergleichbarkeit wäre es aus regulatorischer Sicht aber besser gewesen, die Mindestkapitalisierung primär an der Leverage Ratio – definiert als verlustabsorbierendes Eigenkapital in Prozent der Bilanzsumme – zu orientieren und als Sekundärmass die Risikogewichtung zuzulassen. Die Regulatoren wählten den entgegen­gesetzten Weg; Basel III schreibt als Sekundärmass eine Leverage Ratio von gerade mal 3% vor. Das ist deutlich zu wenig. Wer forderte, Banken sollten 10 bis 20% hartes Eigenkapital halten, wurde belächelt. Doch bis heute sind ökonomisch untermauerte Argumente ausgeblieben, was an dieser Forderung falsch oder volkswirtschaftlich schädlich sein sollte. Trotz der klaren ökonomischen Fakten liessen sich die Politiker von den Drohungen der Banken einschüchtern und verlangten als Antwort auf die grösste Finanzkrise seit fast achtzig Jahren nur geringfügig höhere Eigenkapitalquoten. Wieso bloss?

Ein teurer Fehler

Die Lobbying-Macht der Banken spielte eine Rolle, aber das kann nicht die einzige Erklärung sein. Ebenso wichtig war die oft geäusserte Angst vor einer Überregulierung. Die Krise sei ein Jahrhundertereignis gewesen, es sei übertrieben, die Banken wegen eines einmaligen Ausrutschers in ihren Entfaltungsmöglichkeiten zu behindern, war zu hören. In der Schweiz kam hinzu, dass die öffentliche Diskussion in einem naiven Links-rechts-Schema verlief, in dem es um die Frage zwischen mehr Regulierung oder mehr Freiheit ging – obwohl es ein urliberales Ansinnen gewesen wäre, die marktverzerrende Subvention der Kapitalkosten der Banken zu eliminieren.

So verständlich das Argument der Einmaligkeit der Krise sein mag: Es ist gefährlich und falsch. Was sich im Herbst 2008 abspielte, war kein Meteoriteneinschlag. Es war kein exogenes, unvorhersehbares Ereignis. Nein, im Finanzsystem, das inhärent zu Instabilität neigt, entstehen die Risiken endogen, im Inneren. Sie entstehen und wachsen durch das Verhalten der einzelnen Teilnehmer selbst. Und weil dem so ist, wäre es die Rolle der Regulierung, die Anreizstrukturen so zu lenken, dass keine übermässige, einseitige Ballung von Risiken entstehen kann.

Es ist dieser Punkt, in dem Behörden und Politiker versagt haben. An den Anreizstrukturen hat sich nichts ­ge­ändert. Es gilt implizit immer noch der Modus, dass die Gewinne den Banken gehören, katastrophale Verluste aber vom Steuerzahler getragen werden. Die Bonimodelle richten sich immer noch nach der erzielten Eigenkapitalrendite, obwohl damit der Anreiz geschaffen wird, möglichst wenig Eigenkapital zu halten. Die Banken haben immer noch den Anreiz, nach Grösse zu streben, um in den Genuss der Too-big-to-fail-Subvention zu kommen.

Das ist sie, die Tragik der Causa Lehman. Der Kollaps hatte kaum Folgen. Gemäss Daten der US-Einlagenversicherungsbehörde FDIC lag per Ende 2012 die Eigenkapitalquote von UBS und Credit Suisse unter 3%, die Deutsche Bank kam auf 1,6%, und die anderen europäischen und amerikanischen Grossbanken lagen zwischen 3 und 4%: Giganten auf tönernen Füssen, nach wie vor.

Bewusst oder unbewusst haben Behörden, Politiker, die Öffentlichkeit, die Medien dieses Faktum in Kauf genommen. Wir haben in Kauf genommen, dass eine ­Katastrophe wie im Herbst 2008 nochmals geschehen kann und geschehen wird.

Es wird sich als teurer Fehler erweisen.