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Die Supernova im Blut

Der Kapitalismus als Bedrohung für die Gesellschaft. Eine Erkenntnis von Joseph Schumpeter.

Sterne sterben viele Tode: Mittelgrosse wie die Sonne blähen sich zu roten Riesen auf, wenn ihr Wasserstoff­vorrat zur Neige geht, und explodieren. Bei grösseren gerät die Explosion zur Supernova. Während der Ausdehnung am Ende ihres Lebens verschlingen sie die Planeten, die sie einst aus dem Sternenstaub um sie herum verdichteten – doch das ist nicht das Ende der Geschichte: Die anschliessende Implosion ihres Innern setzt genug Energie frei, um fast alle Elemente des Periodensystems zu bilden. Mit ihrem Untergang schaffen die Sterne den Stoff, aus dem das Leben ist.

Schöpferische Zerstörung ist kein Widerspruch. Geradezu populär wurde der Begriff mit Joseph Schumpeter – kein ­Physiker, sondern einer der bekanntesten Ökonomen der sogenannten österreichischen Schule. Sind die Sterne die Hochöfen des Universums, so ist der Kapitalismus für Schumpeter die Schmiede der ­Zivilisation: Unternehmen kommen und gehen. Ihr Untergang bedeutet, dass etwas Neues, Besseres gekommen ist.

Naturgewalt Unternehmer

Auch wenn sich Schumpeter kaum an der Kreativität der Sterne inspiriert haben dürfte: Sein Bild des Unternehmers vermittelt etwas Grandioses, etwas einer Natur- und Urgewalt, die die Umgebung verändert und formt. Der Unternehmer, wie er ihn sah, ist kein Homunculus für Management-Lehrbücher. Denn Schumpeter glaubte nicht, dass das Aktivprinzip in der Wirtschaftsdynamik etwas so Anämisches wie die Ratio ist. Dem Homo oeconomicus stellte er einen Menschen gegenüber, in dessen Adern nicht nur Staub ausgebrannter Sterne fliesst, sondern der die Supernova im Blut hat.

Wer ist dieser Mensch? Es geht um den Unternehmer als Schöpfer, im Gegensatz zu Finanzhaien à la Gordon Gecko aus «Wall Street» – «I create nothing, I own», war sein berühmtes Bekenntnis.

Zu besitzen war zentral für Schumpeter, aber es genügt nicht, um den Kapitalismus in Gang zu halten. Und es ist auch nicht der Delegierte, der Manager, der das Unternehmen als Institution betritt, in der er eigene Interessen verfolgt. Würde das innere Feuer des Unternehmers nur für Geld brennen, flammte es bald als Bremslicht seiner Innovationskraft auf

Schumpeters Unternehmer ist jemand, der das Bestehende durchschüttelt, erschüttert und wenn nötig zerstört. Innovation entsteht für Schumpeter – er sprach von neuen Kombinationen – nicht, weil sie nachgefragt wird. Er setzte beim Angebot an, ähnlich wie Jean-Baptiste Say, nach dem sich ein gutes Produkt gleich auch seinen Absatz schafft. Für Schumpeter war aber entscheidend, wer hinter dem neuen Produkt stand.

Die bahnbrechendste Erfindung allein war für ihn noch keine Innovation. Das wird sie erst, wenn sie sich durchsetzt. Die Schlüsselrolle spielen «Pionierunternehmer», die permanent neue Kombinationen aufspüren, um- und durchsetzen. Sie erschöpfen sich nicht in neuen Gütern. Ebenso zählen neue Produktionsmethoden, die Erschliessung neuer Märkte, neue Bezugsquellen von Rohstoffen oder Halbfabrikaten sowie die Änderung der Marktposition. Es geht darum, dass anderes oder ­anders produziert und vertrieben wird.

Die Wirkung neuer Kombinationen beschreibt Schumpeter in «Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie» als «schöpferische Zerstörung». Er erklärt den Kapitalismus zur ordnenden Kraft der Gesellschaft schlechthin, zum Labor des Fortschritts, zur Zivilisationsmaschine, mit dem Unternehmer im Maschinenraum.

Schumpeter hat nicht nur Begriffe wie Innovation und Wagniskapital in die Betriebswirtschaftslehre eingeführt. In der Volkswirtschaft hat er Boden, Arbeit und Kapital das Unternehmertum als vierten Produktionsfaktor hinzugefügt. Damit schlug er ganz nebenbei auch eine Brücke zwischen Mikro- und Makroökonomie.

Im Gegensatz zu den etablierten Theorien erklärte Schumpeter die Dynamik kapitalistischer Entwicklung aus ihr selbst heraus, endogen, nämlich aus ihrer Innovationsfähigkeit. Er dachte in Prozessen, nicht in klassischen, statischen Gleich­gewichten à la Léon Walras, wo ein fiktiver Auktionator immer für einen markträumenden Preis sorgt. Ungleichgewichte schiebt er nicht exogenen Schocks von Angebot oder Nachfrage in die Schuhe: «Die kapitalistischen Märkte befinden sich prinzipiell im Ungleichgewicht.» Jedes Element des ­Prozesses müsse in seiner Rolle «im ewigen Sturm der schöpferischen Zerstörung» gesehen werden, es könne nicht unabhängig verstanden werden oder gar dank der Hypothese, «dass eine ewige Windstille herrscht».

Ohne Harmonie nach vorn

Schumpeter lehnte damit auch eines der beliebtesten Instrumente der Ökonomen ab, um die Komplexität der Realität zu ­reduzieren: die Ceteris-paribus-Klausel. Dabei wird die Bewegung einer Grösse ­betrachtet, während man die übrigen Variablen «festhält». Doch im dynamischen Prozess Schumpeters gibt es keine Trockendocks, in denen Teilaspekte aus dem Sturm separiert werden können. Es gibt kein Stillhalteabkommen mit der Wirklichkeit. Konstant ist nur die Veränderung. Schumpeter offenbart sich hier in gewisser Weise als Prozessmystiker. Diese Mystik steht in scharfem Gegensatz zur Marktmystik eines Adam Smith, wo die unsichtbare Hand des Marktes «irgendwie» immer für Harmonie zwischen Angebot und Nachfrage sorgt. Schumpeter sah die Wirtschaftsordnung in rastloser Bewegung, dank revolutionärer Erfindungen und ruckartiger Innovationsschübe. In der Diskontinuität dieses eruptiven Innovationsprozesses «in Stössen» klingt bereits das Konzept des Paradigmenwechsel in den Wissenschaften an, das Thomas S. Kuhn in den Sechzigerjahren entwickelte.

Für Schumpeter ist der Kapitalismus «von Natur aus eine Form oder Methode der ökonomischen Veränderung». Er sei nicht nur nie stationär, sondern könne es auch nie sein. Diesen «evolutionären Charakter» leitet er nicht aus der Trivialität ab, dass das Wirtschaftsleben in ein Umfeld eingebettet ist, das sich ändert, und damit auch die Eingangsdaten für die Wirtschaft. Den fundamentalen Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt, ortet Schumpeter in ihrem Innern, in den von Unternehmern gefundenen neuen Kombinationen. Dieser Prozess der schöpferischen Zerstörung sei das für den Kapitalismus wesentliche Faktum.

Für Schumpeter hat diese Eigenschaft zwei wichtige Implikationen. Erstens: Es hat keinen Sinn, die Leistung des Kapitalismus für einen bestimmten Zeitpunkt zu würdigen. Ein Prozess wie der Kapitalismus enthülle erst in «Jahrzehnten oder Jahrhunderten» seine «wahren und endgültigen» Effekte. Fünf Jahre nach der Lehman-Pleite heisst das: Wie gross der Schaden der Finanzkrise auch war, er ­falsifiziert den Kapitalismus als Gesellschaftsform noch lange nicht. Ungleichgewichte und Verwerfungen sind zudem systeminhärent. Sie sind nicht nur der Preis dafür, dass das System fortschreitet, sondern die Bedingung. Ob es das tut, muss sich über einen weiten Horizont gesehen weisen.

Zweitens habe man es mit einem «organischen Prozess» zu tun. Die Analyse dessen, was sich in einem Teil davon ereigne – in einem Konzern oder einer Branche –, könne über Mechanismen in diesem Teil Aufschluss geben, nicht aber über den Kapitalismus insgesamt. Nur weil Banken und Staaten eine tödliche Symbiose eingegangen sind, sollte nicht das gesamte produktive System an den Pranger gestellt werden.

Andererseits hat die Krise klar gezeigt, dass das Teilsystem Banken nicht funktioniert. Aus Schumpeters holistischer Sicht erhält «jedes Teilstück der Wirtschaftsstrategie seine wahre Bedeutung nur gegen den Hintergrund dieses Prozesses». Er würde heute sagen: Die Bedeutung der Banken muss daran gemessen werden, wie sie den Innovations- und Produktionsprozess unterstützen – und nicht an aufgeblähten Bilanzen mit einem Hauch Eigenkapital. Und: Nur mehr Risikokapital kann sie zurückführen in den ­erlauchten Kreis von Unternehmen, die für ihre Verluste selbst geradestehen.

Leben im Ungleichgewicht

Schumpeters Vision des rastlos Suchenden, des Ungleichgewichts als Norm allen Seins lässt sich auf sein eigenes Leben übertragen. Auch in ihm brodelte ein Vulkan: Der grösste Ökonom der Welt habe er sein wollen, der erste Reiter Österreichs und der beste Liebhaber Wiens, geht die Legende. Das mit den Pferden habe nicht geklappt, scherzte der Partylöwe, Dandy und Liebling der Frauen im Alter.

Seine akademische Karriere verlief unstet. Nach einem Aufenthalt in Berlin bei Gustav Schmoller, dem Doyen der Historischen Schule der Nationalökonomie, forschte er an der London School of Economics. Nach einem Abstecher nach Kairo, wo er als Anwalt wirkte, veröffentlichte er 28-jährig als Professor in Graz mit der «Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung» eines der bedeutendsten Bücher der Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Es folgten Professuren in Europa und den USA. Der Abstecher in die Politik missglückte indes ebenso wie der in die Privatwirtschaft. Seine Karriere als Finanzminister der Republik Deutsch-Österreich ist nach sieben Monaten Geschichte. 1925 tritt Schumpeter als Präsident der Bank M. L. Biedermann & Co in Wien zurück, nachdem er sie mit Spekulationen ruiniert hat. Das Debakel torpediert seine Nachfolge von Werner Sombart in Berlin. Schumpeter folgt dem Ruf nach Harvard.

Ein Komet war er, zweifellos, aber als Stern der Zunft stieg ein anderer auf: John Maynard Keynes. Schumpeter sollte sich stets von ihm überstrahlt fühlen. Seine Geldtheorie vollendete er nicht, als Keynes 1930 den «Treatise on Money» veröffentlichte. Während sich Keynes schon zu Lebzeiten grosser Berühmtheit erfreute, war Schumpeter überzeugt, sein Lebenswerk werde nie jemanden interessieren.

Hierin hat er sich ebenso getäuscht wie im Glauben, dass der Sozialismus den Kapitalismus letztlich doch ablösen werde.

Für Schumpeter war auch der Untergang des Kapitalismus in diesem selbst angelegt. Es ist gerade sein Erfolg, die Produktion von Fortschritt, die dem ­Kapitalismus ironischerweise zum ­Verhängnis werden sollte: Mit dem verbreitet hohen Bildungsniveau sah Schumpeter einerseits den Intellektuellen aufkommen, mit den Grosskonzernen – deren Organisationsform er an sich als Fortschritt ansah – andererseits den Manager. Der Intellektuelle pflegt sich zu Dingen zu äussern, für die er nicht direkt verantwortlich ist, sagte er. Man möchte anfügen: Und der Manager bewegt Werte, die er nicht geschaffen hat und für deren Verlust er kaum zur Verantwortung gezogen wird. Der kreative Prozess droht zu ­erliegen, wenn Kritiker oder Verwalter den Platz des Unternehmer-Genies in der Gesellschaft einnehmen. Mit dem Niedergang des Eigentümers würde der Stern im Zentrum des Kapitalismus ausbrennen. Schumpeter prophezeite diesem sinkende Wachstumsraten in der Produktion. Die steigende Zahl Intellektueller ohne angemessene Beschäftigung werde ihre Unzufriedenheit auf die Massen übertragen, sie organisieren und mobilisieren.

Selten ist der Kapitalismus diesem Szenario so nahe gekommen wie in der Finanz- und Schuldenkrise – nicht nur wegen der horrenden Arbeitslosigkeit im bildungsstarken Europa. Anders als in früheren Krisen sitzt er in den Augen weiter Kreise auf der Anklagebank. Verstetigt sich die Abgabe von Verantwortung an Zentralbanken und Regierungen, wird sie zum System, entzieht sich der Kapitalismus nicht nur selbst die Innovationskraft, die ihn ausmacht. Er beraubt sich auch schleichend seines eigenen Anspruchs, der mächtige Inkubator der Welt von morgen zu sein, den Schumpeter so bewunderte.