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«Die Notenbanken pumpen neue Blasen auf»

Der Physiker Didier Sornette sieht zwei Szenarien, wie die Finanzkrise enden könnte: Im abrupten Fall in den Abgrund oder in der schleichenden Verarmung der Mittelklasse. Trotzdem sagt er: «Ich bin überhaupt nicht pessimistisch.»

Didier Sornette blickt von besonderer Warte auf die Finanzmärkte. Der Professor an der ETH Zürich ist nicht Ökonom, sondern Physiker und Erdbebenforscher. Mit dem Financial ­Crisis Observatory, das er im August 2008 an der ETH gegründet hat, will er be­weisen, dass die Finanzmärkte zu irrationalen Übertreibungen neigen und sich Spekulationsblasen schon im Entstehungsprozess erkennen lassen. Gegenwärtig seien an zahlreichen Orten Blasen zu beobachten. «Es blubbert überall», sagt er im Interview. Ernüchternd ist sein ­Befund zur Robustheit des Weltfinanz­systems fünf Jahre nach dem Kollaps von Lehman Brothers: «Die Situation ist schlimmer als zuvor», warnt Sornette.

Herr Sornette, fünf Jahre sind seit dem ­Zusammenbruch von Lehman Brothers ­vergangen. Ist das globale Finanzsystem heute sicherer als 2007? - Nein, im Gegenteil. Die Situation ist schlimmer als zuvor. Die zehn bis fünfzehn grössten Banken sind heute noch grösser und von noch höherer systemischer Wichtigkeit als vor fünf Jahren. Sie bilden als sogenannte Superspreader das Zentrum des globalen Finanznetzwerks. All die falschen Anreizsysteme innerhalb der Banken sind intakt, da wurde nichts geändert. Das wissen die Banker, die Regulatoren und die Notenbanker ganz genau. Alles, was in der Zwischenzeit getan wurde, all die Stresstests, die Massnahmen der Notenbanken, diente bloss dazu, das Vertrauen ins System wieder herzustellen. Die grundsätzlichen Probleme wurden nicht angepackt.

Wieso nicht? - Entweder wissen die Öffentlichkeit und die Politik es nicht, oder es interessiert sie nicht. In dieser Sache hat der demokratische Prozess versagt.

Aber auf regulatorischer Ebene ist doch ­einiges gelaufen, beispielsweise das ­Basel-III-Regelwerk, das von den Banken mehr Eigenkapital verlangt. - Basel III ist bloss eine Empfehlung, keine Verpflichtung. Zudem sieht das Regelwerk viel zu lange Implementationsfristen vor. Gesetze wie der Dodd-Frank Act in den USA sind ungeheuer komplex, sie bestehen aus Tausenden von Seiten, was den Banken etliche Schlupflöcher bietet.

Ein weiterer Fehler des heutigen regulatorischen Umfelds ist, dass die einzelnen Banken isoliert betrachtet werden. Die Institute sind jedoch derart vernetzt, dass Schwierigkeiten eines einzelnen rasch zu einem systemischen Problem werden. Lehman Brothers war damals nur der ­Kanarienvogel in der Kohlemine, das schwächste Glied in der Kette. Und es war am wenigsten teuer, die Bank fallen zu lassen. Wäre ich US-Finanzminister gewesen, hätte ich es wohl auch getan.

Sie meinen, Lehman kollabieren zu lassen? - Ja. Das war damals doch ein politisches Spiel. Die Regierung wusste, dass sie das Bankensystem retten musste, aber im Kongress wäre ein staatlicher Bailout nie akzeptiert worden. Erst die Katastrophe nach Lehman hat die Öffentlichkeit wachgerüttelt. Lehman war wie der Angriff der Japaner auf Pearl Harbor: Der Fall überzeugte Kongress und Öffentlichkeit, dass es Zeit war, in den Krieg zu ziehen.

Was hätte Ihrer Meinung nach damals ­getan werden müssen, um das Finanz­system robuster zu machen? - Ich finde, Banking muss wieder langweilig sein. Dem Spruch des früheren US-Notenbankvorsitzenden Paul Volcker, die letzte sinnvolle Innovation aus dem Finanz­sektor sei der Bancomat gewesen, kann ich einiges abgewinnen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Finanzwesen ist wichtig für das Funktionieren und den Fortschritt der Wirtschaft. Aber Real- und Finanzwirtschaft müssen sich Hand in Hand entwickeln. Zahlreiche sogenannte Innovationen im Banking-Bereich in den vergangenen dreissig Jahren hatten keinen realwirtschaftlichen Nutzen; sie führten bloss zu einer Aufblähung des Finanzsektors.

Wenn Sie von langweiligem Banking ­sprechen: Meinen Sie eine Einführung des Trennbankensystems, wie es unter dem Glass-Steagall Act nach 1933 der Fall war? - Ja, das wäre eine Lösung gewesen. Das ­Finanzsystem wäre dadurch klar sicherer und robuster geworden. Betrachten Sie diesen Vergleich: Der Glass-Steagall Act von 1933 bestand aus dreissig Seiten, Dodd-Frank aus mehreren tausend. Welches war wohl das effektivere Gesetz? Aber wir müssen uns bewusst sein, am Ende ist das eine gesellschaftliche Frage. Nehmen Sie das Beispiel Grossbritannien: Die Volkswirtschaft besteht aus London – einem riesigen Finanzzentrum – und dem Rest des Landes, der allmählich zerfällt. Da ist es verständlich, dass eine Regierung den Finanzsektor nicht allzu hart anfassen will.

Aber wäre ein Trennbankensystem tat­sächlich zielführend? Schliesslich war es mit AIG ein Versicherer, keine Grossbank, der in Schwierigkeiten geriet. Und wenn zehn kleine Banken kollabieren, hat das doch den gleichen Effekt wie eine grosse. - Das sehe ich anders. AIG war schon ein Versicherer, aber die Probleme entstanden in einer winzig kleinen Einheit, die Investmentbank spielen wollte und wie wild Cre­dit Default Swaps verkaufte. Diese Einheit riss den soliden, konservativ geführten Assekuranzteil mit in die Tiefe. Ich sage nicht, dass eine exakte Kopie von Glass-Steagall nötig wäre. Aber etwas in dieser Art. Wir bräuchten Regeln und Gesetze, die die Anreizsysteme innerhalb der Banken verändern.

Als Antwort auf die Krise haben die Notenbanken die geldpolitischen Schleusen aufgerissen. War das die richtige Strategie? - Das ist sehr schwierig zu sagen, weil wir keinen alternativen Geschichtsverlauf betrachten können, was geschehen wäre, wenn sie es nicht getan hätten. Aber im Grunde ging es um diese Entscheidung: Entweder wir wählen einen kurzen, heftigen Schmerz, oder wir versuchen, uns mit starken Medikamenten aufrecht zu halten. Wir haben den zweiten Weg gewählt.

Wäre der erste Weg denn wirklich ­praktikabel gewesen? - Klar, wieso nicht? Wir hätten die klare Diagnose stellen können, dass die Grossbanken von ungesunden Anreizen getrieben werden und dass sie in verschiedenen Bereichen Monopolstellungen besitzen. Wir hätten die Geschäftsfelder der Investmentbanken, der Versicherer und der Kommerzbanken trennen und mit einem langweiligeren Bankensystem leben können. Wir haben uns aber dagegen entschieden. Vieles, was das Wirtschaftswachstum in den vergangenen dreissig Jahren angetrieben hat, war im Kern bloss ein steigendes Kredit- und Schuldenvolumen und die Aufblähung des Finanzsektors.

Dieses Wirtschaftswachstum war demnach nur eine Täuschung? - Das ist etwas extrem formuliert, aber ja, zu einem grossen Teil war es eine Täuschung. Eine virtuelle Welt, in der die Vermögenswerte von der Kreditschöpfung getrieben immer weiter stiegen und sich vom Fundament der realen Wirtschaft entfernten.

Ein Spiel, das von den Notenbanken immer wieder angefacht wurde? - Genau. Wir tanzen eine Art Tango aus ­Manie und Crash. Und die Notenbanken reagieren auf jeden Crash damit, dass sie eine neue Blase aufpumpen.

Tun sie das auch jetzt wieder? - Ja und nein. Unbestritten ist: Wir sehen heute eine enorme Blase im Bondmarkt, im gesamten Kreditvolumen. Mit ihren riesigen Bilanzen führen die Notenbanken ein einzigartiges Experiment durch. Generell kann gesagt werden, dass eine Unmenge an Geld gegenwärtig nach Anlagemöglichkeiten sucht. Wir identifizieren am Financial Crisis Observatory an der ETH heute eine ganze Reihe blasenähnlicher Übertreibungen in verschiedenen Märkten. Es blubbert überall. Das ­Finanzsystem ist viel fragiler als früher.

Sie führen die vierjährige Hausse an den Börsen auf die Politik des Fed zurück? - Wir sehen auf jeden Fall eine hohe Korrelation zwischen dem Bilanzvolumen des Fed und dem amerikanischen Aktienmarkt. Jedes Mal, wenn ein Quantitative-Easing-Programm startete, stiegen die Kurse. Und jedes Mal, wenn eines stoppte, kam es zu einer Korrektur.

Wie wird das alles dereinst enden? - Die Frage ist furchteinflössend. Wir wissen, dass diese Geldpolitik nur kurzzeitig den Schmerz lindert, die grundsätz­lichen Probleme aber nicht löst. In den USA haben wir einen dreissigjährigen kreditgetriebenen Boom gesehen. In Europa, um ein anderes Beispiel zu ­nennen, haben wir mit dem Euro ein ­unfassbares Monster geschaffen, eine politische Kreatur, ohne jeden ökonomischen Verstand. Das kann die EZB nicht ewig überdecken.

Aber nochmals: Wie wird das Endspiel ­dereinst aussehen? - Ich weiss es nicht. Wir können uns zwei Szenarien vorstellen. Im ersten, nennen wir es das Abgrundszenario, bilden sich mit der Zeit immer mehr feine Haarrisse im System. Sie können das vergleichen mit einer Brücke. Für das Auge unsichtbar, bilden sich kleine Defekte, Risse, ein schleichender Prozess, der sich immer weiter ausbreitet. Dann, plötzlich, stürzt die Brücke ein. Die Schwächesignale sind kaum sichtbar, doch der Status kann sich abrupt ändern, und alles fällt in den Abgrund. Ich halte das allerdings für das ­weniger wahrscheinliche Szenario.

Was ist das andere? - Im anderen Szenario sehen wir eine schleichende Verarmung der Mittelklasse. Die Niedrigzinsen führen schon heute zu realen Vermögensverlusten. Mit der Berechnungsmethode von 1980 kalkuliert, läge die Inflationsrate in den USA heute auf 10 bis 15%, nicht auf den offiziell ausgewiesenen 1,5%. Wir werden nicht die Pensionsleistungen erhalten, die wir uns heute errechnen, wir werden länger arbeiten müssen und weniger dafür bekommen. Wir haben dreissig Jahre lang mit der Illusion von Reichtum gelebt, und von dieser Illusion trennen wir uns ungern. Die Politiker wissen das, daher müssen sie uns das Geld auf Umwegen aus der Tasche ziehen. In Frankreich ist Präsident Hollande ein Meister der versteckten Steuern.

Sie deprimieren uns. - Ich sage meinen Studenten immer: Der beste Ort für Investitionen ist Ihr eigenes Gehirn. Ihr eigenes Humankapital kann Ihnen niemand wegnehmen und niemand besteuern. Man kann Sie nach Ihrem Wasserverbrauch oder nach der Grösse Ihres Hauses besteuern, aber nicht nach der Anzahl Neuronen in Ihrem ­Gehirn. Und vergessen wir nicht: Die Krise ist die beste Zeit für innovative Unternehmen. Die grössten Unternehmen wurden von mutigen Leuten in Krisen­zeiten gegründet. So gesehen bin ich, was die weitere Zukunft betrifft, überhaupt nicht pessimistisch.

Und wie sehen Sie die Zukunft der Schweiz mit ihrem grossen Finanzsektor? - Für die Schweiz bin ich zuversichtlich. Der Finanzsektor macht nur 10% des BIP aus, und dieser Anteil schrumpft weiter. Die Schweiz zählt enorm viele hervorragende Unternehmen ausserhalb des Finanzsektors, die Top-Positionen auf dem Weltmarkt besetzen. Das ist ein ­grosser Unterschied beispielsweise zu Grossbritannien. Und: Die Schweiz ist gut ­darin, ihr Humankapital zu fördern. ­Lehrer sind im internationalen Vergleich extrem gut bezahlt. Das ist wichtig. In den USA sind die Lehrer am unteren Ende der Salärspanne. Wer in Amerika nichts weiss, wird Lehrer.