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Die «Nifty Fifty»-Blase

Das Objekt der Begierde – das Modell SX 70 – macht Polaroid zum Börsenliebling. Doch auf den Höhenflug folgt der Absturz.

Die «Soaring Sixties» sind ein goldenes Jahrzehnt für die Vereinigten Staaten. Die Dekade ist geprägt von Aufbruchstimmung und Prosperität. Jimmy Jones singt «I’ve never had it so good», neue Technologien wie elektronische Datenverarbeitung, Kopiergeräte und Fernseher verändern den Lebensstil von Millionen von Amerikanern. Am 26. September 1960 wird erstmals eine Präsidentschaftsdebatte – zwischen Richard Nixon und John F. Kennedy – im Fernsehen übertragen. Die Nation spricht davon, schon bald den ersten Menschen auf den Mond zu schicken.

Von 1960 bis 1969 erreicht das reale jährliche Wirtschaftswachstum 4,5%. Gemäss der US-Forschungsorganisation National Bureau of Economic Research erleben die USA die längste Wachstumsphase ihrer Geschichte.

1. Finanzielle Repression

Die Aktienmärkte reflektieren die erfreuliche Wirtschaftslage. Von 1958 bis Ende 1965 avanciert der US-Leitindex S&P 500 um rund 140%. Das sind 11% pro Jahr. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts macht sich plötzlich Inflationsdruck bemerkbar, der Börsenmotor stottert.

Die Anleger sind verzweifelt auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten, denn das Sparbuch ist wegen der «Regulation Q» wenig attraktiv. Ein Gesetz aus der grossen Depression schreibt den Banken den maximalen Zinssatz vor, den sie auf Spar- und Sichteinlagen offerieren dürfen. Das Gesetz wurde wegen des Bankensterbens der Dreissigerjahre erlassen – die Regulatoren glaubten, zu grosszügige Zinszahlungen an Sparer seien für die Katastrophe mitverantwortlich gewesen. Um eine Wiederholung zu vermeiden, wurden 1933 Zinsobergrenzen eingeführt.

Als in den Sechzigerjahren die Teuerung anzieht, die Zinsen jedoch künstlich niedrig bleiben, versuchen Anleger, der finanziellen Repression zu entfliehen. Sie entdecken Aktien von wachstumsstarken Qualitätsunternehmen. Morgan Guaranty Trust – heute Teil von J.P. Morgan – erkennt die Zeichen der Zeit und macht eine Gruppe von soliden Unternehmen unter dem Begriff «Nifty Fifty» (die schicken Fünfzig) bekannt. Zu den von der Bank identifizierten Unternehmen gehören illustre Namen wie Coca-Cola, Eastman Kodak, IBM, Johnson & Johnson, McDonald’s, Pfizer, Polaroid, Procter & Gamble und Walt Disney.

Diese Gesellschaften können eine Historie steigender Umsätze, Gewinne und Dividenden vorweisen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste kaum eines dieser Unternehmen je seine Dividenden kürzen, sie gelten als grundsolid.

2. Einfache Entscheidung

Aktien dieser Unternehmen, so die Überzeugung, kauft man und hält sie für immer im Depot. Deshalb werden sie auch «One Decision»-Aktien genannt: Anleger müssen demnach lediglich eine Entscheidung – nämlich den Kauf – fällen und sich keine weiteren Gedanken mehr über ihr Investment machen.

Ein willkommener Nebeneffekt für die Banken: Eine Empfehlung, in solch solide Unternehmen zu investieren, kann kaum Anlass zu Beschwerden geben. Auch wenn der Kurs der IBM-Aktie sinkt, kann einem Kundenberater kaum Unvorsichtigkeit vorgeworfen werden, hat er doch ein erstklassiges Qualitätsunternehmen ausgewählt. Ein weiterer Vorteil ist, dass diese Unternehmen zu den grössten und liquidesten gehören. Somit können institutionelle Anleger, ohne die Preise massgeblich zu beeinflussen, darin investieren.

Ein weiterer Grund für die Popularität dieser Blue-Chip-Aktien ist deren robustes Gewinnwachstum. Der Gesamtmarkt durchlebt in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre eine heftige Gewinnrezession – die inflationsbereinigten Gewinne der im US-Leitindex S&P 500 enthaltenen Unternehmen sinken von November 1966 bis Dezember 1970 um ein Viertel. Doch die Nifty Fifty schlagen sich wacker. In einem derartigen Umfeld erstaunt es wenig, dass Anleger bereit sind, für robuste Unternehmen, die ihre Gewinne halten oder gar zu steigern vermögen, eine Bewertungsprämie zu zahlen.

3. I’m a Believer

Die Rechnung geht auf, die Investoren werden für ihre Titelselektion belohnt: Allein 1965, als der Gesamtmarkt in eine breite Seitwärtsbewegung übergeht, überflügeln die Nifty Fifty den S&P 500 um rund 20%. Im folgenden Jahr schneidet die Gruppe um fast 25% besser ab. Die Monkees singen «I’m a Believer» und immer mehr Investoren werden ebenfalls zu Gläubigen. Auch im folgenden Jahr steigen die Nifty. 1968 folgt erstmals ein Rückschlag, der den Aufwärtstrend jedoch nicht nachhaltig zu bremsen vermag. Bereits 1969 nimmt die Aufwärtsbewegung wieder Fahrt auf, die Nifty Fifty schlagen den S&P 500 um über 30%. Die Bewertungen stossen in immer höhere Sphären vor.

Im Juli 1969 landet «Apollo 11» mit Neil Armstrong und Buzz Aldrin an Bord als erste bemannte Raumsonde auf dem Mond. Der Amerikaner Tommy Roe singt «Dizzy», doch den Anlegern wird es noch lange nicht schwindlig, sie treiben die Kurse immer höher. 1971 und 1972 folgt noch einmal ein Aufwärtsschub – in den beiden Jahren lassen die Nifty Fifty den Markt um mehr als 40% hinter sich.

In den acht Jahren von 1964 bis 1972 schneiden die Nifty Fifty jedes Jahr um 15% besser ab als der Gesamtmarkt. Über die gesamte Zeitspanne verachtfacht sich deren Börsenkurs, den S&P 500 überflügeln sie um 200%.

4. Hohe Bewertung, tiefer Fall

Im Höhepunkt der Euphorie Ende 1972 zeigt sich jedoch ein krasses Auseinanderdriften in den Bewertungen zwischen Nifty-Fifty-Aktien und Gesamtmarkt. Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von durchschnittlich beinahe 45, einem Kurs-Buch-Verhältnis von über acht und einer Dividendenrendite von mickrigen 1% erreicht die Bewertung extreme Werte. Zum Vergleich: Der S&P 500 handelt damals zu einem KGV von 18 und wirft eine Dividendenrendite von 2,7% ab.

So handeln die Titel von Avon Products, Baxter International, International Flavors & Fragrances, Johnson & Johnson, McDonald’s und Walt Disney zu KGV von über 55. Für den Spitzenreiter Polaroid sind Anleger gar bereit, das 93-fache des Jahresgewinns zu bezahlen. Dann setzt der Bärenmarkt ein. Am 11. Januar 1973 –  Black Sabbath singen «Glamour trip so soon to slip / Easy come but oh how quick it goes / Ten foot tall but what a fall» – markiert der S&P 500 sein Höchst von 120,24 Punkten. Dann folgt die unaufhaltbare Erosion der Kurse, die durch den Ölpreisschock im Oktober verschärft wird.

Als Reaktion auf das Eingreifen der USA in den Jom-Kippur-Krieg kündigen die Mitglieder der Organisation erdölexportierender Länder (Opec) ein Ölembargo an, das den Preis des schwarzen Goldes innerhalb weniger Monate von 3 $ auf beinahe 12 $ je Fass katapultiert. Die Weltwirtschaft wird in die Knie gezwungen, die Börse setzt ihre Talfahrt fort.

5. Schick in den Abgrund

Erst im Oktober 1974 findet der S&P 500 bei 62,28 Punkten den Boden – ein Verlust von 48%. Obschon sie im Ruf stehen, solide und verlässlich zu sein, erwischt es die Nifty Fifty noch viel heftiger als den breiten Markt. Die Aktie Coca-Cola, Inbegriff der Stabilität, büsst vom Ende 1972 erreichten Höchst innerhalb von zwei Jahren rund 70% ihres Werts ein. Mit einem Einbruch von knapp 60% muss auch IBM kräftig Federn lassen. Avon (–86%), Polaroid (–91%) und Xerox (–71%) ergeht es nicht besser. Über die folgenden acht Jahre bleiben die Nifty Fifty 33% hinter dem S&P 500 zurück und geben damit einen Grossteil der in den Jahren zuvor erzielten Outperformance wieder preis.

Der Börsenkurs von Polaroid, der mit Abstand teuersten Aktie Ende 1972, fällt in den folgenden Jahren auf gerade noch 5 Cents. Im Oktober 2001 meldet das Unternehmen Konkurs an.

Viele Anleger lernen auf schmerzhafte Weise, dass ein gutes Unternehmen nicht gleichbedeutend ist mit einer guten Investition. Es kommt immer auf den dafür bezahlten Preis an.