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Die (neue) Vermessung der Wirtschaft

Wir müssen das Bruttoinlandprodukt wohl neu berechnen: starke Worte – richtige Erkenntnis. Was die Forderung besonders eindrücklich macht: Sie stammt nicht etwa von ewig nörgelnden Kritikern am eindimensionalen Verständnis des Bruttoinlandprodukts (BIP) als Mass aller nur scheinbar glücklich machenden Dinge. Es ist Christine Lagarde, die einen neuen Massstab zur Ermittlung und zum (internationalen) Vergleich ökonomischer Aktivitäten verlangt. «Wenn ich eins aus Davos mitgenommen habe, dann, dass die momentanen Wohlstandsmasse für die neue Zeit nicht mehr so gut geeignet sind und nicht richtig messen, was wirklich passiert», begründete am Weltwirtschaftsforum die IWF-Chefin ihre Frustration mit dem die Wirtschaftsstatistik dominierenden BIP.

Die Kritik am BIP ist alles andere als neu. Sie ist so alt wie das BIP selbst. Ganze Heerscharen von Studierenden wurden in der Einführungsphase auf seine Mängel hingewiesen. Besonders beliebt war der Verweis auf die offensichtlichsten Fehler. Dazu gehört, dass das BIP steigt, wenn ein Autofahrer einen schweren Unfall verursacht, obwohl dadurch das Wohlbefinden der Gesellschaft nicht zu-, sondern abnimmt. Oder dass es fällt, wenn eine junge Mutter den Nachhilfelehrer ihrer Kinder heiratet, weil selbst erbrachte Leistungen innerhalb eines gemeinsamen Haushalts im BIP nicht erfasst werden.

Das BIP sagt nichts zur Lebens- und Umweltqualität, zu Verteilungsfragen, Zivilisationskrankheiten, Unfällen, Kriminalitätskosten oder zum Zustand der Natur. Vieles andere mehr, wie die fehlende Nachhaltigkeitsorientierung, die missachtete Schwarzarbeit oder fundamentale Bewertungsprobleme, hat immer schon zu harscher Kritik an einem BIP-Fetischismus der Ökonomen geführt. Diese wiederum wehrten sich, dass das BIP zwar nicht wirklich gut, aber von allen schlechten Messgrössen immerhin die beste sei.

Das «Produktivitätsrätsel»

Neu und anders aber ist nun, dass die digitale Revolution die bisherige Vermessung von Wirtschaft und Wohlstand ganz grundsätzlich in Frage stellt. Mit der Digitalisierung – also dem Sammeln, Verdichten, Bewerten, Verbreiten, Vernetzen und Verwerten von Daten und der Transformation von Information in Wissen und Produktion – wird eine neue Wertschöpfung jenseits von Gütern und Dienstleistungen geschaffen. Sie entsteht virtuell und somit losgelöst von physischen Produkten, die auf Märkten gehandelt werden. Deshalb erscheint sie nicht oder nur teilweise im BIP, das in der Regel über Markttransaktionen oder – wo es keine Marktwerte gibt – behelfsmässig über Kosten ermittelt wird.

Somit ist es eigentlich auch kein Wunder, wenn sich die Effekte der Digitalisierung bis anhin nicht in den gängigen BIP-Messungen wiederfinden. Hier wiederholt sich lediglich, was schon zu Beginn des Computerzeitalters zum «Productivity Puzzle» geführt hatte. Damals waren «Computer überall zu sehen, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken», wie Nobelpreisträger Robert Solow die New Economy so anschaulich beschrieb.

Für das «Produktivitätsrätsel» der Digitalisierung gibt es viele Gründe. Der wichtigste ist, dass im BIP nur «Altes» und Bekanntes gemessen werden kann, wofür es «Klassifikationen», «Güter» und ein «Inland» gibt, das sich klar vom «Ausland» abgrenzen lässt. Das «Neue» und Unsichtbare der datengetriebenen Digitalisierung, also die Vernetzung, das Verschmelzen von Mensch und Maschine und die Verlagerung von physischen Produkten in virtuelle Räume, bleibt im BIP hingegen mehr oder weniger unberücksichtigt.

Wertschöpfung im World Wide Web

Dramatischer noch: Wenn kostenpflichtige Printmedien durch frei zugängliche E-Papers ersetzt werden, kann das BIP sogar sinken, obwohl der Nutzen und damit der Wohlstand steigen, weil mehr Menschen billiger, schneller und einfacher Zugang zu Informationen finden. Genauso wird im BIP nur als «Investition» verbucht, was in physischen (Anlage- oder Sach-)Gütern daherkommt, nicht jedoch die Bildungsausgaben, die zu mehr Wissen in den Köpfen der Menschen führen. Ein schwerwiegender Mangel, wenn im Zeitalter der Wissensgesellschaft das Humankapital mehr und mehr zum mikro- wie makroökonomischen Erfolgsschlüssel wird.

Wenn ein immer grösserer Teil der Wertschöpfung ortsungebunden im World Wide Web geschaffen wird, verliert ein auf das «Inland» bezogener Massstab zunehmend seine Funktion. Roboterisierung, künstliche Intelligenz sowie wechselseitige Vernetzung von Mensch und Maschine lassen Zeit und Raum gleichermassen verschmelzen wie physische Grenzen von und zwischen Wertschaffenden, Unternehmen und Staaten verschwinden. Mobilität und Wissensaustausch zwischen Mensch und Maschine, zwischen Unternehmen und zwischen Ländern nehmen zu – auch ohne dass sich Menschen räumlich bewegen. Daten sorgen für «Werte», der Datenaustausch ersetzt den Güterhandel in Teilen. Ansätze dafür sind bereits erkennbar. Aussenhandelsstatistiken zeigen, dass der klassische Warenaustausch seine Dynamik verliert, während der globale Dienstleistungshandel und v. a. der internationale Datenverkehr weiter stark wachsen.

Wie aber kann die Wertschöpfung in einer Volkswirtschaft verlässlich gemessen werden, wenn sich der Ort ihrer Entstehung geografisch immer weniger präzise eingrenzen lässt? In welcher BIP-Statistik erscheint welcher Teil der von Signalen und Impulsen ferngesteuerten Roboter und Drohnen oder weltumspannender Datenwolken? Heute schon und mit tagtäglich verstärkter Tendenz werden Datenpakete in Nanosekundenschnelle rund um die Welt gejagt. Sie schaffen dann dezentral an Ort und Stelle der Kunden mithilfe von 3-D-Druckern «Werte» wie Bausegmente, Spezialwerkzeuge, Prothesen nahezu aller Körperteile, Brillengestelle oder selbst Kleider, Schuhe oder Diätmenus.

Im Zeitalter der Digitalisierung werden viele Werte nicht mehr «dinglich» hergestellt. Sie bemessen sich nicht mehr an oder in örtlich zurechenbaren Stückzahlen, Fahrzeugen oder Materialeinheiten, sondern in «Daten». Nach einer aktuellen Studie des McKinsey Global Institute wird heute schon etwa ein Achtel des weltweiten Güterhandels über E-Commerce abgewickelt, und etwa die Hälfte aller international gehandelten Dienstleistungen ist digitalisiert. Da gibt es weder eine klar definierte Wertschöpfung noch einen Exportwert im klassischen Sinne, weder für das Produkt selbst noch für die logistischen Dienstleistungen des Datentransports.

«Big Data» erfordert «Data Economics»

Man kann bei der BIP-Ermittlung Abhilfe schaffen, indem man den Wert der durch die Digitalisierung geschaffenen Wertschöpfung oder den durch digitale Güter und Dienstleistungen entstehenden Nutzen oder Umsatz am Schreibtisch der Statistiker schätzt. So aber verlagert sich beim BIP die Erkenntnis noch weiter weg von der Marktorientierung hin zur Kunstwelt der statistischen Modellbauer. Damit aber steigt die Gefahr erst recht, mit künstlich geschaffenen Zahlen den Bezug zur «gemessenen» Realität zu verlieren.

Auch im Zeitalter der Digitalisierung gilt, dass etwas Licht besser ist als gar keines. Deswegen sollten das BIP oder herkömmliche Masszahlen zur Messung der Produktivität (und ihrer Fortschritte) nicht vorschnell in den Orkus der Ökonomik entsorgt werden. Dennoch wird offensichtlich, dass «Big Data» nach einer speziellen «Data Economics» verlangt. Wenn das BIP einen immer kleiner werdenden Aspekt der Realität korrekt abbildet, hat Christine Lagarde recht, dass es «in einer neuen Zeit» aller Anstrengungen bedarf, um einen sachgerechteren Massstab zur Vermessung von Wirtschaft und Wohlstand zu finden. Denn zu viele wirtschaftspolitische (Re-)Aktionen, auch Verteilungsfragen, hängen am BIP und an seiner Entwicklung, als dass Gesellschaften es sich leisten könnten, einem falschen Kompass zu folgen.

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