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Die Lektion aus dem Fall Venezuela

Wenn wir von einem Unglück hören, das einem Freund zugestossen ist, fühlen wir Mitleid, und es wird uns schwindlig. Wir fragen uns, ob das auch uns selbst passieren könnte. Ist dieses Unglück das Ergebnis besonderer Charakteristika, die wir selbst zum Glück nicht haben? Oder sind auch wir verwundbar? Falls ja, können wir ein ähnliches Schicksal vermeiden?

Die gleiche Logik gilt für Länder. Am Wochenende des 16. und 17. Juli erhielten die Venezolaner die Gelegenheit, die Grenze nach Kolumbien für zwölf Stunden zu überschreiten (nun sollen die Grenzen schrittweise geöffnet werden). Das war ein Ereignis, das an den Fall der Berliner Mauer erinnerte. Über 135’000 Menschen nützten diese Chance, um in Kolumbien Güter des täglichen Bedarfs einzukaufen. Sie reisten Hunderte Meilen und tauschten ihre Währung für 1% des offiziellen Wechselkurses, um Nahrungsmittel und Medikamente zu besorgen. Dennoch war es ihnen das wert, angesichts des Hungers, des Mangels und der Verzweiflung zu Hause.

Die internationale Presse hat über den Zusammenbruch der Wirtschaft, des Gesundheitswesens, der öffentlichen Sicherheit, des Rechtsstaats und der Menschenrechte in Venezuela berichtet. All dies geschieht im Land mit den grössten Ölreserven der Welt, nur zwei Jahre nach dem Ende der längsten Ölpreishausse in der Geschichte. Könnte es auch anderswo geschehen?

Nicht die Folge von Pech, sondern von Glück

Die Besonderheiten jedes Einzelfalls sind, nun, eben besonders und passen daher nirgendwo sonst. Doch das wiegt uns in Sicherheit. Bei genauerer Betrachtung bietet das Beispiel Venezuelas Lehren für andere Länder.

Venezuelas Krise ist nicht das Resultat von Pech. Im Gegenteil, Glück bescherte dem Land das Seil, mit dem es sich selbst erhängt hat. Vielmehr ist die Krise das Ergebnis der Politik der Regierung.

Im Fall Venezuelas umfasste diese Enteignungen, Preis- und Wechselkurskontrollen, zu hohe Kreditaufnahme in guten Zeiten, unternehmensfeindliche Regulierungen, Grenzschliessungen und weiteres dergleichen. Betrachten wir bloss diese kleine Absurdität: Präsident Nicolás Maduro hat sich mehrmals geweigert, Banknoten von höherem Nennwert drucken zu lassen. Die Banknote des höchsten Nennwerts gilt derzeit weniger als 0.10 $. Das wirkt im Zahlungssystem, im Betrieb der Banken und der Geldautomaten verheerend und ist ein Quell unsäglichen Ärgers für die Menschen.

Glaubensfragen

Die relevante Frage lautet: Wieso verfolgt eine Regierung eine derart schädliche Politik? Und warum akzeptiert die Gesellschaft das? Das Chaos, in das Venezuela gestürzt ist, scheint jenseits des Glaubhaften – doch in der Tat ist es ein Produkt des Glaubens.

Ob eine Politik verrückt oder vernünftig erscheint, hängt vom jeweiligen konzeptionellen Rahmen, vom Glaubenssystem ab, das wir verwenden, um das Wesen der Welt, in der wir leben, zu interpretieren. Was vor dem einen Muster verrückt wirkt, leuchtet vor dem anderen völlig ein.

Ein Beispiel: Von Februar 1692 bis Mai 1693 beschuldigten die sonst vernünftigen Leute von Massachusetts einige Frauen der Hexerei und erhängten sie. Für jemanden, der nicht an Hexerei glaubt, erscheint das unverständlich. Doch wer glaubt, der Teufel existiere und bemächtige sich der Seelen mancher Frauen, für den ist das Hängen, Verbrennen oder Steinigen ihrer Körper eine vernünftige Politik.

Gefangen im Paradigma

Das Paradigma des venezolanischen Chavismo legt Inflation und Rezession verschlagenem Verhalten der Geschäftswelt zur Last, was es unter Kontrolle zu bringen gelte – durch mehr Regulierung, Enteignung und Inhaftierung von Unternehmern. Die Zerstörung von Menschen und Organisationen wurde wahrgenommen als ein Schritt in die richtige Richtung. Das Land würde geheilt, in dem es die Hexen beseitige.

Die Entwürfe, nach denen eine Gesellschaft ihre Lebenswelt zu erfassen versucht, sind nicht nur an wissenschaftlichen Tatsachen festgemacht, denn Wissenschaft kann bestenfalls den Wahrheitsgehalt individueller Glaubensinhalte bestätigen, sie kann aber nicht ein überwölbendes Glaubenssystem konstruieren oder Ergebnissen bestimmter Politiken moralische Werte zuweisen.

In der Politik geht es um die Repräsentation und die Entwicklung alternativer Glaubenssysteme. Rafael Di Tella (Harvard) hat gezeigt, dass die grundlegende Bestimmungsgrösse öffentlicher Wahl von Politiken die Glaubensinhalte der Menschen sind. In Ländern, wo die Menschen die Armen als unglücklich betrachten, verlangen sie Umverteilung, wo sie sie als faul betrachten, tun sie das nicht. Wo Menschen glauben, die Unternehmen seien korrupt, wollen sie mehr Regulierung; und mit mehr Regulierung sind die einzigen erfolgreichen Unternehmen korrupt. So können Glaubenssätze sich selbst endlos fortsetzen.

Die Fälle Trump und Brexit

Beispiel Donald Trump, der Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Ihm und vielen seiner Anhänger zufolge werden die USA von Schwächlingen geführt, die sich ausnützen lassen von gerissenen ausländischen Mächten, die  sich als Verbündete maskieren. Freihandel ist eine mexikanische Erfindung, um amerikanische Arbeitsplätze wegzunehmen. Die Erwärmung der Atmosphäre ist ein chinesischer Jux, um Amerikas Industrie zu zerstören.

Daraus folgt, dass die USA damit aufhören sollten, eine führende Rolle in der Herstellung einer funktionierenden Weltordnung zu spielen, die auf allgemeinen Werten und Regeln basiert; vielmehr sollten die USA ihre Macht benützen, um andere zur Unterwerfung zu zwingen. Unter dem gegenwärtigen Paradigma würde das gemäss Joseph Nye (Harvard) die einseitige Zerstörung von Amerikas wichtigster Quelle von «Smart power» bedeuten. Doch in Trumps Weltsicht wäre das ein Schritt voran.

Vieles davon gilt wohl auch für den britischen Entscheid, die EU zu verlassen. Sollten Einwanderer und EU-Regulierungen tatsächlich den Fortschritt des Landes blockieren, was implizierte, dass der Brexit einen Pfad zu höherem Wohlstand erschliessen wird? Oder ist der wirtschaftliche Abschwung seit der Abstimmung ein Zeichen dafür, wie wertvoll Integration und Bewegungsfreiheit der Menschen in Europa für die Vitalität Grossbritanniens waren?

Die Gefahr, die das Beispiel Venezuelas – und vielleicht bald auch Grossbritanniens – illustriert, ist diejenige des Schadenspotenzials, das dysfunktionale Glaubenssysteme auf das Wohlergehen eines Landes haben können. Der chavistische Glaube, der Venezuela zerstört hat, wird höchstwahrscheinlich unter der Last seines katastrophalen Scheiterns zusammenbrechen. Die Lektion daraus für andere ist, wie kostspielig es werden kann, ein womöglich dysfunktionales Glaubenssystem zu übernehmen. Wenn es um grossangelegte Paradigmenwechsel geht, führt Venezuela vor Augen, wie unbezahlbar teuer solche Experimente werden können.

Copyright: Project Syndicate.